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Die 2010-er Jahre starteten noch mit einem "Plädoyer gegen den Digitalisierungswahn"

Nach der Rede von @saschalobo auf der re:publica21 habe ich noch mal in alten Papieren gekramt, um nachzusehen, wie eigentlich das hegemoniale Mindset so zu Beginn der 2010-er Jahre ausschaute. Und damit bin ich auch noch einmal auf die Suche gegangen, um Antworten auf die Fragen zu finden, warum die Digitalisierung in Deutschland im Allgemeinen und die der Schulen im Besonderen so gründlich schiefgelaufen ist. Schließlich habe ich mich für ein zweiseitiges Pamphlet aus dem Jahr 2012 entschieden, das ich Mit meiner Arbeitshypothese untersuchen konnte.

 

Hier geht es zur Rede von Lobo: youtu.be/950X27xLcsM

Reaktionen auf die Rede

 

Die Hypothese lautete in etwa wie folgt:

 

Neben dem Infrastrukturdilemma, provoziert durch eine unheilige Allianz aus „Kupferkabel“-Lobby und Post-Privatisierungsapologeten, waren und sind es die Beharrungskräfte der Gutenberggalaxis, die in die Schulverwaltung und Lehrer:innenschaft hinein massiv lobbyiert haben. Die Beharrungskräfte bestehen sowohl aus offensichtlichen als auch aus undurchsichtigen Verflechtungen der „Papier“-Industrie, die ihre Gewinne und schlicht ihre Fortexistenz sichern wollten. Im Detail sind das sicher in erster Linie Schulbuchverlage und in zweiter Linie Unternehmen mit schulnahen Druckerzeugnissen und Produkten, die wiederum der Aufnahme, Ablage und Verwaltung dieser Erzeugnisse dienen.  

 

Bild von Dariusz Sankowski auf Pixabay 

 

In die Hände gefallen ist mir dabei nicht eine Spitzer-Schrift, sondern ein unscheinbares Periodikum des Friedrichverlags, das im Wesentlichen aus Werbung besteht, die in redaktioneller Erscheinung auftritt. Von dem Artikel distanziert sich der Verlag jeweils mit dem Hinweis, dass allein der Autor die Verantwortung trägt.

Im Heft 4 (2012) kommt es zum Auftritt eines gewissen Peter H. Grunwald. Obwohl der Verlag wieder den bekannten Disclaimer abdruckt, ist für die einleitenden Zeilen doch der Verlag verantwortlich. Dieser kündigt den Artikel wie folgt an: „Digitale Medien, wie sie heute halten in unsere Schulen, beflügeln nicht – sie machen aus wissbegierigen Individuen lernunwillige Fließbandarbeiter in einem uniformen Bildungsbetrieb. Das meint jedenfalls Peter H. Grundwald, Geschäftsführer eines Schulmedienherstellers (sic) – und bricht eine Lanze für die medienkritische Position vieler Lehrer“.

Und was dann kommt, zeigt recht viel von dem ideologischen Arsenal der Gutenbergkrieger. Allein die Zwischenüberschriften erzählen die Geschichte (die dritte zeigt am ehesten den Spitzer-Einfluss):

 

  • Viel fauler Zauber
  • Medien müssen dienen
  • Schüler, Computer und die Lernunwilligkeit
  • Schule als Kontrapunkt

 

 

Alles klar? Habe ich schon von der Überschrift gesprochen? Nein. Sie lautet: „Schöne neue Welt? Ein Plädoyer gegen den Digitalisierungswahn“. Wow! In dieser Logik musste man, um weiterhin „Schulmedien“ (gemeint sind wohl solche aus Papier, Pappe und Kunststoff) zu verkaufen, ganz groß ausholen. Doch wie holt man sich die Pädagogen und Pädagoginnen zu Beginn der 2012er Jahre am besten in sein ideologisches Panzerboot? Man erinnert sie an den Tiefpunkt der „Dichter-und-Denker-Traditionalisten“, nämlich an den Moment als sie von einem Bundeskanzler als „faule Säcke“ beschimpft wurden. Warum? Nun, Grunwald weiß, dass schon Schröder mit seiner Initiative „D 21“ antrat, dabei „die gesamte IT-Branche und seine politischen Partner in Bund, Ländern und Kommunen aufmarschieren [ließ], um die Schulen umfassend zu computerisieren“. Die erste Jubelarie hört sich dann so an:

„Den passiven Widerstand konnte aber auch er nicht brechen. Sogar die List der trojanischen interaktiven Whiteboards, mit trickreichen Begriffen und ‚Zauberstäben‘ die Computer in die Schultafeln zu mogeln, ist daran gescheitert. Denn 380.000 deutsche Lehrer sehen keinen (oder nur einen unklaren) Nutzen beim Computereinsatz im Unterricht“.

Der Autor nimmt sich hier also hier die Freiheit, einem gewählten deutschen Bundeskanzler zu unterstellen, dass er mit einer Kriegslist (Troja), vermeintlicher Magie (Zauberstäbe) und unlauteren Mitteln (mogeln) eine – aus guten Gründen – widerständige Berufsgruppe niederwerfen will. Ein starkes Stück!

 

Bild von konstantin rotkevich auf Pixabay

 

Die von Grundwald im nächsten Absatz so geadelten Widerständler dürften sich bei ihrer Haltung gleich auf mehrere wissenschaftliche Expertisen und einen PISA-Sieger berufen: a) auf Joseph Weizenbaum, dem das Zitat über das Internet zugeschrieben wird, in dem es heißt, dieses sei „ein Misthaufen aus 90 Prozent Schrott“; b) auf Spitzer (Schüler lernen mit Computern weniger) und c) auf ein Institut, das (irgendwo?) in Deutschland gegründet worden sei, „um Lehr- und Lernmittel ‚ohne PC‘ zu entwickeln“. In Finnland (und den USA), so Grunwald, entferne man die interaktiven Tafeln bereits wieder aus den Klassen- und Schulzimmern.

Fassen wir noch einmal kurz zusammen: In der ersten Hälfte der Nullerjahre wehrten 380 000 deutsche (sic) Widerständler die Kriegslist eines Bundeskanzlers ab, der durch unlauteren Einsatz von Magie versuchte, die Schulen – oder zumindest die Lehrerzimmer – mit einer List zu erobern. Die Rekonstruktion zeigt eher einen Autor, der neben dem Lobbyieren vermutlich eher selbst magischen Denken verfallen ist.

 

Was fiel dem Autor wohl als nächstes ein? Genau: China. Damit sind wir also bei der tiefsitzenden Angst vor Kommunismus / Kollektivismus im Sinne der Kulturrevolution und vor der Fließbandproduktion des neuen Chinas (als Werkbank der Welt) einerseits und der digitalen Kontrolle andererseits angekommen: „Dort [in China] soll jeder Lehrer in jeder Unterrichtsstunde nach vorgegebenen Detailplänen jeweils bestimmte Unterrichtseinheiten mit seinen Schülern am Computer abarbeiten und dokumentieren. [und dann das Ungeheuerliche:] Damit kann das gesamte Unterrichtsgeschehen im Nachhinein kontrolliert werden und jeder beliebige Ersatzlehrer nahtlos jeden Unterricht fortsetzen“. Unglaublich! Vielleicht nimmt man mir ab, dass auch ich nicht für die totale Kontrolle und personalisierte Bildung zur Verfügung stehe. 22 Jahre nach der deutschen Vereinigung von 1990 schreibt der Autor: „Das ist Hightech-Fließbandschule mit dem Ergebnis einer uniformen Bildung [‚wie in der DDR‘, schreibt er dann nicht, M.S.] Wollen wir das wirklich für unsere Kinder mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten?“

 

Bild von Darkmoon_Art auf Pixabay 

 

Der Begriff und der Vorgang der Digitalisierung, der Autor nutzt ihn nur einmal in Kombination mit „-wahn“ in der Überschrift, wird heute auch von uns mit Kritik belegt; glücklicherweise steht uns seit 2016 der Begriff (Kultur der) Digitalität zur Verfügung, mit dem wir gegen bloße Digitalisierung, die für Kontrolle und lehrerzentrierte „Werkzeuge“, wie eben das Whiteboard, agitieren können.

Zu „Medien müssen dienen“ muss eigentlich nichts mehr gesagt werden (vgl. Axel Krommer: Wider den Mehrwert!). Der Autor weiß nur zu berichten, dass Computer nun mal nicht für den Unterricht entwickelt wurden. Die Angst vor der eigenen (möglicherweise mangelnden) Medienkompetenz lässt ihn formulieren: „Die optimalen Lehr- und Lernmittel müssen nicht ‚bedient‘ werden, sie haben sich den Lehrern und Schülern anzupassen und ihnen zu ‚dienen‘“.

 

Im nächsten Absatz beschwert er sich nun über „unsere Kinder“, die mit „fliegenden Fahnen ins Computerlager übergelaufen“ sind. Fälschlicherweise behauptet er, dass sich diese gerne „digital natives“ nennen lassen würden; er hat einen besseren Begriff parat: „Dabei würde das Wort ‚Paraminds‘ (griech./engl. Für ‚neben dem Gedächtnis‘) besser passen“. Als vermeintlicher Phänomenologe versucht er nun so zu argumentieren: Man beobachte bei hochintelligenten Schülern, dass sie nach und nach – eben weil ihnen alles „zufliege“ – „lernunwillig und bequem“ werden. Also „schließt“ er: „Dieses Phänomen hat sich ‚dank‘ Handys, Gamekonsolen und iPads auf einen Großteil der heutigen Schülerschaft übertragen. Auch sie glauben, dass ihnen Wissen auf Knopfdruck oder per Fingerwischen zufliegt“. […] Aber die Masse der Schüler sind keine HIQs, sie sind nur knopfdrückende Paraminds. Sie täuschen angebliches Wissen vor […]“; da ist es wieder: der wahrlich schöngeistig Gebildete weiß noch wirklich, während alle anderen nur noch Dünkelweisen sind, wie es eben Sokrates meinte, als er sah, dass seine Schüler anfingen alles aufzuschreiben.

 

Der Autor, der im letzten Abschnitt die „Schule als Kontrapunkt“ behaupten will, nutzt dann ganz unverfroren die PISA-Ergebnisse, um sein Weltbild zu rechtfertigen. Das Übliche folgt: Es werde zu wenig gelesen, kaum mehr könne ausreichend geschrieben werden, Lernunwilligkeit verhindere Schulabschlüsse, Hartz-IV-Lebensläufe mit TV-Soaps und Internetsucht seien vorprogrammiert. Diese Leier zeigt glücklicherweise noch einmal seinen defizitären Blick auf Gesellschaft und deren Unterschicht. Seine eigentliche Verachtung verpackt er in ein Paket, das ihm erlaubt zu sagen, ich habe euch gewarnt!

Zum Abschluss bietet er den Lehrer:innen noch einmal einen ideologischen Pakt an. Er wisse ja, dass die Gesellschaft den Lehrern die Hauptschuld (u.a. offenbar für Hartz-IV-Lebensläufe etc.) zuweist. „In Wirklichkeit sind sie die einzigen Deiche, die unsere Kinder mit Fleißvorgaben vor der Flut der Dummheit schützen“. Konsequent endet er mit Spitzer.

So sind die Lehrer:innen also noch zu Beginn 2010-er Jahren umworben und umschmeichelt worden, damit sie auf immer nicht nur den Anfängen, sondern auch den (mal nassen, mal roten) Fluten trotzen. Interessant ist noch ein „Erklärungskasten“ auf den beiden Seiten, der in den anscheinend redaktionellen Artikel eingebunden ist. Hier erklärt der Autor – und das ist aus unserer Perspektive heute wirklich amüsant -, dass die Nutzung von „Erzeugnissen“ für die Computerarbeit Schule und Unterricht erheblich verteuern werde; auch das damals aufkommende Leistungsschutzgesetz (die Bundesregierung war 2012 schwarz-gelb) wird erwähnt. Und dann: „Das Urhebergesetz verbietet eine freie und kostenlose Nutzung von Erzeugnissen im Unterricht, die vom Urheberrecht geschützt sind. […] Damit die deutsche Lehrerschaft nicht kriminalisiert wird, müssten Schulträger, Lehrer und/oder Eltern entsprechende Lizenzen kaufen. Das kann aufwändig und teuer werden“. LOL! Da biedert sich jemand mit der Aussage an, dass bedrucktes Papier günstiger als Computerhardware sei.

 

Bild von Michal Jarmoluk auf Pixabay 

 

Zusammenfassung und Weiterführung:

Die Gefahr, die der Autor kommen sah, war ein uniformes, vom Computer kontrolliertes Aus-Bildungssystem für die „Hightech-Fließband-Schule“. Die Ironie in diesem Teil des unverstandenen Paradigmen-Wechsels hin zur Turing-Galaxis besteht darin, dass der Autor hier einen Treffer erzielt. Wir sehen heute, dass in diesen Fällen, in denen Institutionen und Menschen mit den Überbleibseln dieses Mindsets (380 000 Widerständler!) jetzt die nachholende Digitalisierung administrieren, geneigt sind, genau diese Kontroll-Schule zuzulassen, genauer: weiterzuführen, die sie angeblich zu verhindern versuchten.

Während wir die Schule von den Fesseln des Industriezeitalters lösen wollen, um die Kreativität jedes Einzelnen zu entwickeln, sein Leben selbstbestimmt zu planen und zu leben, fähig zu sein, die Wirkungsweise von fremdvergesellschaftenden und der Tendenz nach „unsichtbaren“ Algorithmen zu durchschauen, „handlungsfähig im Sinne von von Gehlens Überforderungsbewältigungskompetenz zu sein (vgl. Gehlen 2018, S. 45), die Herausforderungen „Demokratie sichern“, ´“Klimakrise abwenden“, UN-Entwicklungsziele voranbringen, gibt es die Bewahrpädagogik, die das alte Kontrollregime fortführen will.

 

Das Schreckensszenario „China“, das Grunwald & Co. aufrufen, hat wenig mit China aber viel mit Industriegesellschaft („bei uns“ im „Westen“ eher in der Vergangenheit und in China noch heute) zu tun: Um die Industriegesellschaft zu ermöglichen, mussten die Massen alphabetisiert werden. Um den Bauernjungen (und später auch –mädchen) die Gedanken an die (spätere) Flucht aus den Maschinenhallen und Kohlestädten des 19. Jahrhunderts auszutreiben, trieb man ihnen mit Prügelstrafe, totaler Kontrolle und später im 20. Jahrhundert noch immer mit dummdreister Auswendiglernerei die Lust am eigenmotivierten Lernen aus; manchmal trat diese Lernvorschrift noch im Reimform auf, wie etwa „333, bei Issos Keilerei“, einer Lernform, die einer Gesellschaft Ehre genügte, die lediglich der mündlichen Überlieferung von Wissen fähig war.

 

Als die Computer Massenphänomen wurden und echte Pioniere wie Seymour Papert die neuen Möglichkeiten, die Befreiung des Lernens vom Nürnberger Trichter erkennen, führen in den 1990er Jahren deutsche Periodika genau mit jenem Papert viel weniger ein Interview als vielmehr ein Verhör, in dem genau jene Vor-Urteile, die DER SPIEGEL gegenüber dem Computer im Unterricht hat, bestätigt werden sollen (kurz: wir verlieren die unteren Schichten). Es sind genau jene Vor-Urteile mit dem Jahre später ein gewisser Grundwald, man möchte sagen: vor sich hin fantasiert, man muss aber sagen: lobbyiert. Und das alles in 2012.

Das alles war in 2012: FAX war ein anerkanntes und datenschutzrechtlich noch nicht hinterfragtes (?) Massenmedium. Die Berliner Lehrer:innen hatten noch keine dienstliche Email-Adresse (sorry ;-)). Deutschlands Fußballmänner verloren noch einmal in einem Halbfinale. „380 000 deutsche Lehrer“ leisteten passiven Widerstand. Die Initiative D 21 war längst vergessen und ausgesessen. Der Start in die bundesdeutsche Legislatur hatte eher die Hoteliers in die Schlagzeilen gebracht. Um digitale Infrastruktur sollte sich ein kaputtgesparter, teilprivatisierter, allerdings noch teilstaatlicher Telekommunikationskonzern kümmern, dessen Konkurrenten für immer geringere Erlöse sorgten, so dass immer weniger investiert wurde. Mit dem letzten Flug eines Space-Shuttles (im Jahr 2011) schien ein Technikzyklus am Ende. Die Technikphobier atmeten auf und nahmen noch einmal Anlauf. In Deutschland folgten acht verlorene Jahre.

 

Der Start in die Turing-Galaxis war so richtig vergeigt.

 

 

Literatur:

 

Dirk von Gehlen (2018): Das Pragmatismus-Prinzip, München

Peter H. Grundwald (2012): Schöne Neue Welt? Ein Plädoyer gegen den Digitalisierungswahn, in: BildungSpezial 4/12, S. 18-19.

Axel Krommer (2018): Wider den Mehrwert! Argumente gegen einen überflüssigen Begriff.

Sascha Lobo (2021): Eröffnungsrede auf der Online-re:publica 2021, vgl. youtu.be/950X27xLcsM