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Herr Papert, wird es im nächsten Jahrhundert noch Schulen geben?

Anfang des Jahres 1994 veröffentliche der Spiegel einen Titel, auf dem ein Junge zu sehen ist, der einen Computer auf dem Rücken trägt, der den Schulranzen offenbar ersetzt hat, die Tastatur trägt der Junge unter dem Arm, eine Computermaus baumelt hinterher. Der Bildschirm leuchtet, die drei Buchstaben "ABC" füllen ihn aus. Der Text lautet: "Lernen mit Computer. Schöne neue Schule". Im Innenteil gibt es neben dem Hauptartikel ein Interview mit Seymour Papert über Schule, Lernen und Computer. Ich versuche hier eine Analyse der SPIEGEL-Fragen, die das ganze Elend der deutschen Technik-Skepsis zeigen.

 

Das Interview mit Papert, einem Schüler Piagets füllt in etwa eine SPIEGEL-Seite. Seymour Papert ist zum Zeitpunkt des Interviews 65 Jahre alt und Professor am MIT im amerikanischen Cambridge. Vorgestellt wird er als Entwickler der Programmiersprache Logo und als 'Vordenker' der Computer-Pädagogik (Er starb 2016).

Der SPIEGEL hat insgesamt elf Fragen vorbereitet, um den "Vordenker" in die Zange zu nehmen. Unter den elf Fragen befindet sich eine echte offene Frage, die Papert dazu einlädt, sein Bild von Unterricht darzulegen. Die Frage lautet einfach: "Wie wird sich der Unterricht ändern?" (Frage 2).

Bevor Papert jedoch über den zukünftigen Unterricht sprechen darf, hat der SPIEGEL bereits die erste rhetorische Frage abgeschossen: 'Herr Papert, wird es im nächsten Jahrhundert noch Schulen geben?' (Frage 1), die im weiteren Verlauf von einer Aussage mit Fragezeichen flankiert wird 'Der Lehrer wird nicht überflüssig?' ("Frage" 7). Diese "Frage" könnte durchaus so verstanden werden, dass hier dem SPIEGEL im Gespräch tatsächlich ein Licht aufgeht, dass Papert, die Reformpädagogik, der Computer-Unterricht und auch das Logo-Programm nicht identisch sind mit einer Skinner-Box.

 

Doch zurück zur zweiten, offenen Frage an Papert, wie sich Unterricht verändern wird. Der Interviewte weiß darauf zu antworten, dass das Gleichschritt-Lernen in der Gegenwart eine Katastrophe für Kinder ist, die nicht gut 'einpauken' können. Diese Kinder, die vielleicht kreativer und intelligenter seien, 'können aber ihr Talent in der Schule nicht entfalten'. Der Professor hat also im ersten Zugriff lediglich die Gegenwart als Verschwendung von Talent (und vermutlich Zeit) gekennzeichnet. Über die Zukunft hat noch nicht gesprochen. Doch die Beschreibung der Gegenwart ist für den SPIEGEL schon eine Zumutung. Die Folgefrage lautet daher 'Denen sollen Computer helfen?' (Frage 3, gemeint sind jene, die nicht 'einpauken', also nicht Auswendiglernen können). Papert kann im Folgenden sagen, wie diese Kinder ihre Kreativität mit dem Computer entfalten können: Musik machen, schreiben, zeichnen, kommunizieren oder einfach nur spielen'. 'Einfach nur spielen'!?, das ist für den SPIEGEL zu viel: 'Das heißt doch nicht, daß sie mit dem Computer auch besser lernen?' (Frage 4). Paperts Antworten liefern einen Schlüssel für soziales und demokratisches Lernen, das in unserer Gegenwart noch immer bedeutsam ist: 'Durch die Arbeit mit der Maschine lernen Kinder zwei ganz wichtige Dinge, um in unserer komplexen Welt besser zurechtzukommen: in Zusammenhängen zu denken und sich Wissen selbst anzueignen'. Wäre es nicht schön gewesen, die deutsche Schule hätte in der zweiten Hälfte der 1990-ern angefangen, das zu wagen?

 

 

 

Am Ende der Antwort deutet Papert an, dass die Schülerinnen und Schüler der Zukunft im Netz z. B. herausbekommen werden wie Giraffen schlafen. Das ist endgültig zu viel. DER SPIEGEL verliert die journalistische Contenance und wirft den folgenden Satz vor den Professor: "Und dann gehen die Kinder nicht mehr in den Zoo, weil sie ihre Computerwelt spannender finden als die wirkliche Welt". ("Frage" 5). Papert antwortet, dass das Gegenteil richtig sei, dass es viele gute Gründe gibt, anzunehmen, dass die Ergebnisse, gewonnen am Computer, erst die Neugier wecken und einen natürlichen Lernprozess anstoßen, dass Schülerinnen und Schüler mit dem Computer die Arbeit erleichtert wird, weil er ihnen vor Dingen die Angst nimmt, die kompliziert erscheinen. Dieses Weltbild ist dem SPIEGEL kaum zuzumuten. In Nachfolge jener Germanen, die nach Tacitus nur eine Sache wirklich nüchtern und ernsthaft betrieben, nämlich das Würfelspiel, drängt es den SPIEGEL: 'Heute nutzen Kinder den Computer vor allem für Spiele. Sie schießen Flugzeuge vom Himmel oder erobern Galaxien. Wie wollen Sie dafür sorgen, daß Kinder mit dem Computer sinnvoll umgehen?' (Frage 6). Papert antwortet, dass das ja wohl das Problem der Schule der 'Gegenwart sei, dass die Schülerinnen und Schüler deshalb auf diese Angebote ausweichen. "Das Schulsystem schreibt den Kindern heute genau vor, was sie in welcher Zeit zu lernen haben. Meine Vision ist, daß Kinder neues Wissen dann lernen sollten, wenn sie das Gefühl haben, es auch zu brauchen". Damit versucht Papert den SPIEGEL noch einmal an die Ideen der Reformpädagogik zu erinnern. Papert wünscht sich eine Schule, in der die Lehrer die Kinder "zu intellektuell anspruchsvoller Arbeit animieren". Der SPIEGEL lernt daraus, dass Papert, der Computer-Mensch, geboren in Südafrika und über die Schweiz (Piaget) in die USA ausgewandert, den Lehrer nicht abschaffen will (siehe "Frage" 7). Da Papert will, dass der Lehrer, wie es im Text durchgehend gender-de-sensibel heißt, Kinder über eine andere Art des Lernens beflügeln will, kommt dem SPIEGEL eine Einsicht: 'Die Funktion des Lehrers wird sich also wandeln?' (Frage 8).

 

 

Papert versteht diesen Hinweis als Problematisierung der Pädagogen, die in Zukunft "ein breiteres Wissen" benötigen und sich nicht mehr auf ein Fach beschränken können, wie er meint. Dazu hat der SPIEGEL keine Meinung, ist zumindest nicht interessiert, die Frage zu vertiefen. Papert hatte dagegen schon gleich zu Beginn betont, dass die alten Lehrpläne, 'wie wir sie kennen', zukünftig abgeschafft werden, 'weil sie Kreativität ersticken'. Das kann der SPIEGEL nicht auf sich sitzen lassen und kommt jetzt darauf zurück. Aus einem Land kommend, das ein mehrgliedriges Schulsystem sein eigen nennt, in dem die Durchlässigkeit zwischen den Systemen 1994 beschämend gering ist und das noch 25 Jahre später den Bildungserfolg im hohen Maße vom Elternhaus abhängig sehen wird, stellt der Interviewer allen Ernstes diese Frage: 'Wie wollen Sie ohne Lehrpläne sicherstellen, daß alle Kinder eine Allgemeinbildung bekommen und annähernd gleiche Chancen haben?' (Frage 9). Paperts Lösung ist die output-orientierte Kompetenzorientierung. Wir wissen heute, wie stark Deutschland in Folge des PISA-Schocks von der OECED in diese Richtung geführt wurde.

Doch der SPIEGEL geht in 1994 nun im Verhör weiter auf Paperts unmögliche Ideen mit dem folgenden Vorwurf ein: 'Von Ihrer Zukunftsschule werden besonders Kinder profitieren, die schon zu Hause erfahren haben, wie wichtig Lernen ist. Kinder aus kaputten Familien (sic, so hießen damals noch die 'bildungsfernen' oder 'sozial schwachen' Familien), die nie den Wert von Bildung erfahren haben, werden wahrscheinlich scheitern.' ("Frage" 10). Papert ist nicht der Typ, der dieses Problem negiert oder schönredet. Er akzeptiert es, obwohl der SPIEGEL nur die Sozialgeschichte des deutschen Schulwesens in die Zukunft fortschreibt. Mit der letzten Frage will der SPIEGEL dann seinen Titel exekutieren: Der Titel-Text drückt ja die Botschaft aus: Eine 'Schöne neue Schule' wäre in Wirklichkeit Huxleys Dystopie der Unfreiheit, in der physisch manipulierte Kinder indoktriniert werden, um sich in das Kasten-System der Unfreiheit einzugliedern. Der Interviewer fragt daher selbstsicher: 'Pädagogen wollen seit Jahrzehnten Schule reformieren - und sind allesamt gescheitert. Warum sind Sie so sicher, daß es diesmal gelingt?' (Frage 11).

Wir antizipieren richtig, dass sich Papert keineswegs sicher ist, dass die Sache gelingen wird. Er beobachtet sogar Gegenteiliges: "Die Maschinen werden eingesetzt, um Kindern mit stupiden Lernprogrammen zu drillen". O.K., Kahoot kannte er noch nicht, womöglich hatte Papert aber eine Idee von Lückentext-Programmen.  

 

Literatur:

 

Lernen, Leben und Lieben, Ein Interview mit Seymour Papert, in: DER SPIEGEL 9/94, S. 113 f.