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Auf Kurs? Ein Artikel aus dem Kursbuch 24 (1971) zur Wiedervorlage (und warum es doch um viel mehr geht)

Der erste Satz? Ein Paukenschlag! So beginnt man Texte: "Mit dem Glauben an die Schule ist es vorbei", schreibt ein gewisser Ivan Illich 1971 im Kursbuch 24. Ob in diesem Satz bereits jene Skepsis gegenüber der Schule zum Ausdruck kommt, die wir heute, 13 Monate nach Ausbruch der pandemie darunter verstehen, will ich in einer Art archäologischen Herangehensweise zu eruieren versuchen.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay 

 

1. Vorbemerkung und Wiedervorlage

 

"Statt den Bekanntheiten der Ereignisgeschichte will der Archäologe des Wissens auf die diskreten Strukturen und Prozesse hinaus, die Wissen im Verborgenen strukturieren. Deshalb führt er eine 'synchrone Untersuchung des Wissens und seiner Bedingungen' durch", schrieb Deleuze 1977. (Zitiert nach Foucault-Handbuch: Leben-Werk-Wirkung, S.220).

 

Tatsächlich war es so, dass ich nicht im zwischenzeitlich für alle zugänglichen Archiv der ehemaligen Vierteljahreszeitschrift Kursbuch nachgeschaut habe, sondern es trug sich vielmehr so zu, dass ich beim kritischen Blick auf das Bücherregal ("Ist das noch relevant oder kann das weg?") auf genau diese Ausgabe stieß, die ich mir wohl mit der Blickrichtung "Lehrerwerden-Lehrersein" irgendwann einmal zugelegt hatte.

Das Kursbuch wurde 1971 noch von Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel herausgegeben, allerdings schon im Verlag Klaus Wagenbach und nicht mehr bei Suhrkamp wie beim Start 1965. (Für weitere Details zum Kursbuch vergleiche de.wikipedia.org/Kursbuch_(Zeitschrift)). Der Archiv steht seit 2019 allen hier frei zur Verfügung.

 

Hier ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis

 

2. Biografisches ("Das ist lustig!")

 

Ich der Rückschau finde ich es allerdings auch lustig, dass das Kursbuch im Jahr meiner Geburt das Licht der Welt erblickte und die Feststellung, dass es mit dem Glauben an die Schule vorbei sei, im Jahr meiner Einschulung vorgenommen wurde.

Allerdings gibt es für mich einen zweiten Zugang. So habe ich nicht vor langer Zeit hier im Blog geschrieben, dass die Sache mit der Schule durchaus einen radikalen Formwandel durchmachen könnte:

 

Meine These lautet: Wenn Sie nach der Schule der Zukunft suchen, dann ist es wahrscheinlicher, dass Sie sie in "Fortnite - The Renaissance (Kapitel 4)" oder in "Grand Theft Auto VII" finden als an dem Ort, an dem sie heute angesiedelt ist (Anm. 4). Lösen Sie sich von der Idee des realen Gebäudes! Wie in vielen virtuellen Umgebungen zukünftig gelernt wird und warum das Lernen intrinsisch ist, das hat Thomas Bröcker auf der Re:publica19, Abteilung #MediaConventionBerlin ausgeführt. In dem knapp 30-minütigen Vortrag kann man z.B. erfahren, was man alles lernt, wenn man ein Raumschiff bauen oder fliegen will (Das vorgestellte Spiel ist Eve Online.

 

Im weiteren Verlauf des Textes habe ich dann auch die Begriffe von Philippe Wampfler "persönliche Bildung" versus "personalisierte Bildung" eingeführt. Diese Begriffe spielen weiter unten auch wieder eine Rolle.

 

 

3. Irrwege

 

Hat man den oben empfohlenen Wikipedia-Artikel gelesen, dann weiß man so viel wie, dass sich das Kursbuch in der 1968-er Studentenrevolte radikalisiert und nach scharf gewandt hat. In dieser Zeit konnte die Auflage der Zeitschrift auf etwa das fünffache gesteigert werden (50.000 Exemplare). Was bedeutete vor diesen Hintergründen die pointierte Feststellung, dass der Glaube an die Schule vorbei sei? Und: Wer glaubte das? Diese Fragen sind nicht unerheblich, da man heute tatsächlich dem Irrglauben anhängen könnte, dass hier jemand von einem Standpunkt aus über die ihm nicht schnell genug verlaufenden Bildungsreformen schreibt. Diesen Standpunkt könnte man in etwa so beschreiben: Ausgehend von der Regierungserklärung Willi Brandts, "Wir wollen mehr Demokratie wagen", liegt hier ein - sagen wir - links-sozialdemokratische Standpunkt vor, der mehr staatliche Anstrengungen (und natürlich mehr Geld!) für die Bildung fordert. Dass dem ganz und gar nicht so ist, soll die archäologische Freilegung der Hintergründe zeigen.

 

 

4. Der Autor

 

Wenn jemand 1926 in Wien geboren wird, im Hause Sigmund Freuds verkehrt (die Eltern waren mit den Freuds befreundet), 1941 aus Wien aufgrund der jüdischen Abstammung fliehen muss (die Mutter war allerdings zum Christentum konvertiert und ließ sich evangelisch taufen), nicht nur Philosophie studiert, sondern auch Theologie, was ihn zur römisch-katholischen Weihe und zur Anstellung in den Vatikan führt, dann kann man schon von einem recht turbulenten Leben reden (vgl. dazu die Wikipedia unter de.wikipedia.org/Ivan_Illich). Der sich als Befreiungstheologie verstehende Priester kam mit den Vorstellungen des Vatikans in Konflikt und legte 1960 seine priesterlichen Funktionen ab. Er arbeitete mit lateinamerikanischen Institutionen für gesellschaftliche Reformen in New York. Er war 1967 endgültig in der katholischen Kirche in Ungnade gefallen und wandte sich Bildungsfragen zu und forderte bald (wie hier im besprochenen Artikel) die "Entschulung" der Gesellschaft. Sein Buch Deschooling Society erschien im gleichen Jahr wieder dieser Kursbuch-Artikel. Ironischerweise wird heute als Gegenentwurf das echte Homeschooling, v.a. in den USA, verstanden. Doch damit würden wir es uns auch zu leicht machen (Illich starb 2002 in Bremen). Unter dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag, de.wikipedia.org/Deschooling, kann man nachlesen, dass am ehesten Jürgen Zimmer und Hartmut von Hentig bekannte "Deschooler" waren, jedoch mit der Einschränkung gleich versehen, das von Hentig nicht für die Abschaffung von Schule stand, sondern für eine radikale Reform. Pointiert heißt es im Wikipedia-Artikel schließlich: "Im Prinzip geht es den „Deschoolern“ darum, das Monopol der Schule auf die Vermittlung von Wissen und auf die Vergabe von Titeln und Berechtigungen zu brechen. Indirekt kritisieren die „Deschooler“ das System, welches die Schule umgibt, den Kapitalismus".

 

 

5. Der Standpunkt

 

Aber von welchem Standpunkt aus forderte er eine "Entschulung" und was war damit gemeint? Der Begriff deutet schon an, dass wir es wohl eher nicht mit sozialdemokratischer Emphase für mehr Geld für Schulen und Universitäten zu tun haben. Wie kann man den Standpunkt am ehesten sachgerecht erfassen? Vielleicht mit "Das Leben selbst ist die Schule", abgewandelt vielleicht in: "Die Lebens- und Arbeitswelt soll die Schule eines jeden sein!"). 

Zwei positiv besetzte Schlüsselbegriffe stehen im Zentrum: Selbstbestimmt lernen und Emanzipation. Was aber genau will Illich angreifen? Es sind die Wohlfahrtsbürokratien der entwickelten Industriestaaten und die sich entwickelnde Wohlfahrtsbürokratie in den noch unterentwickelten Ländern des Südens. Die Wohlfahrtsbürokratien haben nach Illich ein Monopol gewonnen "auf die gesellschaftliche Phantasie und Vorstellungskraft" (S.1), in diesem System werde den Schülern beigebracht, "Unterricht für Lernen zu halten, das Durchlaufen der Klassen für Bildung, ein Diplom für wissenschaftliche Befähigung" (ebd.). Diesem System schreibt er zu, das "selbsttätige Lernen" als suspekt wahrzunehmen und in der Konsequenz darauf hinzuwirken, das Subjekt in "psychischer Ohnmacht" zu halten, so dass es nicht "selbsttätig handeln" könne (vgl. S. 2): "die Menschen werden immer unfähiger, ihr Leben aufgrund eigener Erfahrungen und selbstdirigierter Kooperation zu organisieren" (S.3). Das ist für ihn die eigentliche Armut der Gesellschaft. Man könne noch so viel Geld auf das Bildungssystem werfen, um die Armen an die Mittelschicht heranzuführen (er nennt drei Milliarden Dollar, die von 1965 bis 1968 noch immer im Zuge des Sputnik-Schocks zusätzlich in die us-amerikanischen Schulen gepumpt wurden.

Vielleicht kann man einen psycho-sozialen, archimedischen Punkt bei Illich ausmachen: Er schreibt bezüglich der Erfahrungen in lateinamerikanischen Schulen: "In diesen Ländern [eben in den lateinamerikanischen, M.S.] wird den meisten schon auf der Schule ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den besser Ausgebildeten beigebracht" und weiter auf derselben Seite: "Paradoxerweise ist der Glaube an die absolute Notwendigkeit einer allgemeinen Schulbildung am stärksten in Ländern, in denen die wenigsten Menschen die Schulen besucht haben und besuchen werden" (Beide Zitate, S. 5).

 

 

6. Illichs Desillusionierung von Schule

 

Illich sieht 1970/71 Kuba wie auch alle anderen lateinamerikanischen Länder den entwickelten Ländern hinterherlaufend, auf den Weg, "das Durchlaufen einer als 'schulpflichtiges Alter' verstandenen Ausbildungsperiode als ein fragloses (sic) Ziel für alle" (S. 5) als Entwicklungsziel auszugeben. Wir sollten an dieser Stelle kurz innehalten und uns noch einmal vergewissern, wie sehr wie die Reformen der sozialliberalen Ära zwischen 1965 und 1980 mit den Gründungen von Gesamtschulen und Hochschulen feierten. Illich, nun ist das keine Überraschung mehr, ist da ganz anderer Ansicht: Im Anschluss an eine Betrachtung der in den USA für Bildung zustehenden Mittel (1969: 36 Milliarden Dollar) und einer Schätzung, die die eigentlich notwendigen Mittel auf 80 Milliarden Dollar taxierte, kommt er zu folgendem Schluss:

 

"Die USA, die 1969 fast 80 Milliarden Dollar für die 'Verteidigung ausgaben, eingeschlossen die militärische Intervention in Vietnam, sind offenbar zu arm, um gleiche Ausbildungsmöglichkeiten für alle gewährleisten zu können. [...] Notwendige Folge einer obligatorischen Schulbildung ist die Polarisierung der betreffenden Gesellschaft; [...]In allen Ländern sind die Bildungsausgaben schneller gestiegen als die Zahl der Studierenden und als das Bruttosozialprodukt; und überall bleiben die Ausgaben des Erziehungssystems immer weiter hinter den Erwartungen der Eltern, Lehrer und Schüler zurück. Durch diese desolate Situation wird verhindert, dass sich ein Interesse an der Finanzierung einer großangelegten Planung nichtschulischer Bildungsmöglichkeiten entwickelt" (S. 6 f.).

 

Im Folgenden geht Illich so weit, die Schule (als Institution für gesellschaftlichen Aufstieg) als "Weltreligion des modernen Proletariats" zu kennzeichnen. Tatsächlich verhalte es nämlich wie folgt: "Durch das öffentliche Schulsystem wird weder der Lernprozess noch eine gerechte Behandlung der Schüler gefördert, weil die Erzieher stets Instruktion mit Zertifikation verknüpfen". (Beide Zitate S. 8).

 

Exkurs: Neulich nahm ich an einer Online-Veranstaltung teil (versprochen war ein Webinar), in der eine Neuauflage eines alten Schulbuches angepriesen wurde. Der Verlag, die Autorin und somit das Schulbuch wollten vorgeblich alle Themen in Lernaufgaben verpackt sehen. Dabei bezog man sich via Josef Leisen zunächst auf die klare Trennung zwischen Lern- und Leistungsaufgaben. Letztlich versuchte die Autorin jedoch unbedingt und äußerst nachdrücklich Leistungsaufgaben in den Lernaufgaben unterzubringen. - Man sieht also: Nichts erscheint dem heutigen "Erzieher", "der Pädagogin" suspekter als der Verzicht, auf Instruktion mit gleichzeitiger Zertifikation zu verzichten.

 

Eine letzte Desillusionierung: "Eine weitere schwerwiegende Illusion, die eine Stütze des Schulsystems darstellt, ist die Annahme, dass die meisten Kenntnisse und Fertigkeiten das Resultat irgendeiner Form des Schulunterrichts sind. Unter bestimmten Bedingungen kann ein derartiger Unterricht gewisse Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln. Die meisten Menschen erwerben jedoch den größten Teil ihres Wissens außerhalb der Schule, in der Schule aber nur insoweit, als diese in einigen reichen Ländern während eines ständig wachsenden Teils des Lebens zu einer Art Gefängnis geworden sind" (S. 9).

 

Hier sieht man schon die Archäologen am Werk, die zusammen versuchen, die Geschichte der Gegenwart noch einmal neu zu betrachten. Wenn man sich einmal anschauen möchte, wie ein Teil der Jugendlichen alle 21st Skills außerhalb der Schule wirklich lernt (interessanterweise genau ab dem Zeitraum des ersten Schullockdown in Deutschland), wie sie sich diese Skills "'draufschaffen" (weil Schule kein Angebot macht), der sollte sich mal in der #BuildtheEarth-Community auf Discord, Youtube, TikTok und natürlich in Minecraft umschauen (Aber dazu an anderer Stelle mehr).

 

 

7. Was will der Autor als Alternative zur Schule?

 

Für eine Entschulung der Gesellschaft setzt Ivan Illich zunächst voraus, dass der "Doppelcharakter" des Lernens erkannt werde. Er unterscheidet a) zwischen einem traditionellen Unterricht, einer "streng methodische Ausbildung" (drill teaching) (wir können darunter durchaus direkte Instruktion, aber auch den Frontalunterricht oder genauer (für die deutsche Tradition) "das fragenentwickelnde Unterrichtsgespräch verstehen) und b) einem Unterricht, der Bedingungen dafür schaffen will, dass die "Entwicklung der kritischen Denkfähigkeit" gefördert wird. Für das letztere Tun will Illich den Begriff der Bildung reservieren; dazu Illich (S.11): "Bildung ist wesentlich gebunden an die in kritischer Intention vorgenommene kreative und intersubjektive Aneignung von Überlieferungen".  Und wir stimmen alle zu! Hier können wir mit unserer archäologischen Arbeit auch ein wenig über die Hintergründe der 21st Skills erfahren und überführen Illichs Bildungsbegriff in den des Charakters bzw. der Haltung. Aber zurück zu Illich: Seine Analyse besagt, dass die Schule beides schlecht macht, weil sie einem Lehrplan folgt. Der Lehrplan steht für ihn stellvertretend für den eigentlichen Plan (vielleicht den heimlichen) der Bürokratie: "Verhaltensgewohnheiten und -erwartungen einer verwalteten Konsumentengesellschaft" zu produzieren (S. 11).

 

In dem oben geschilderten Zusammenhang adressiert Illich zwei verschiedene Institutionen. Anhand des Erlernens einer europäischen Fremdsprache berechnet er die Kosten (und kommt zum Ergebnis, dass diese Anfang der 1970-er Jahre bei etwa 400 bis 600 Dollar liegen - bis fließend gesprochen werden kann). So stellt er sich ein System vieler Ausbildungsprogramme vor, in denen Grundfertigkeiten gelernt werden können. Die Klassenfrage stellt er in diesem Kontext erneut und erkennt positiv an, dass die Reichen sich schon immer alle gewünschten Lern-Programme kaufen konnten. Wir stellen uns hier mal einen bunten Strauß an Qualifikationen vor, die man einzeln ab- und aufrufen kann (nicht notwendigerweise unter einem Dach, allerdings schlägt er doch "Zentren für die Vermittlung von Fertigkeiten an Menschen jeden Alters (nicht nur an Arme), kurz: skill centers. Diese Zentren sieht er später auch direkt am Arbeitsplatz (vgl. S. 12). Bezahlt wird übrigens mit "Bildungskreditkarten". Illich will also zur Entwicklung von Fertigkeiten, er zählt hier neben Fremdsprachen auch Lesen und Schreiben, Programmiersprachen, Algebra, Schreibmaschinenschreiben, Uhrenmachen, Klempnerarbeiten, Verdrahtungen (Elektrik?), Tanzen, Autofahren und Kunstspringen auf (vgl. S.10). Biografisch interessant finde ich daran, dass ich mir mit der Schule lediglich das Lesen und Schreiben sowie die Algebra ganz ordentlich beigebracht habe. Alles andere (mit Ausnahme von Uhrenmachen und Kunstspringen) habe ich mir "im Leben" (vieles davon "neben" dem Studium) angeeignet oder dafür Spezialschulen, wie die Fahrschule, aufgesucht.

 

Nun ja, lassen wir mal offen, ob alle bisher aufgezählten Fähigkeiten notwendig dem drill teaching entspringen müssen. Wenden wir uns der Bildung, der Ausbildung von Haltung, wie wir es im Deutschen spätestens seit Fadel, Bialik und Trilling (Die vier Dimensionen der Bildung) nennen. Um Haltung zu gewinnen oder Haltung zu erlernen sieht Illich im Gegensatz zu den skill centers eine notwendige "Organisation von Zusammenkünften solcher Personen, die an den gleichen Problemen arbeiten (peer matchings), oder neue Formen des informellen Lernens" vor (vgl. S. 11). Auf einen Akteur in Puerto Rico bezogen ergeben sich für Illich folgende wünschenswerte Ergebnisse: Man könne erkennen, "dass viele Jugendliche bei geeigneten Anreizen und Unterrichtsprogrammen und bei Bereitstellung der nötigen Mittel ihre Altersgenossen besser mit wissenschaftlichen Forschungsmethoden und technischen Kenntnissen bekannt machen würden, als die meisten Schullehrer es gegenwärtig tun. Würden solche Vorschläge verwirklicht, so würde dadurch das Erwerben von Fertigkeiten von der 'humanistischen' Bildung getrennt - während die Schulen beides miteinander verknüpfen. Dadurch würde unlizenziertes Lernen genauso gefördert wie unlizenziertes Lehren nicht von den Interessen der oberen Klassen diktierter Inhalte. Gefährlicher und subversiver als der unlizenzierte Austausch oder Erwerb von Fertigkeiten erscheint die uneingeschränkte Möglichkeit zu Zusammenkünften von Personen, die gemeinsam die für sie sozial, intellektuell und emotional bedeutsamen Probleme diskutieren" (S. 12 f.). Und dann führt er zu den Zusammenkünften genauer aus; bei diesen gehe "es im Prinzip immer um dasselbe: um die Möglichkeit, sich jederzeit zur Diskussion selbst ausgewählter Probleme zu versammeln. Die Organisation von Einrichtungen, durch die diese Möglichkeit erleichtert und unterstützt würde, bildete die radikalste Alternative zu den Schulen und Universitäten, die an Lehrpläne, einen bestimmten Aufbau des Unterrichts und bürokratische Verwaltungen gebunden sind und in denen Zeit und Motivation einer begrenzten Anzahl von Personen darauf verwendet wird, in ritualisierter Form heteronom festgelegte Probleme zu behandeln. Ein Beispiel für das, was ich als Alternative verstehen würde, wäre z.B. folgende Möglichkeit, in New York City eine Diskussion zu arrangieren. Jeder, der den Wunsch hat, könnte jederzeit und zu einem minimalen Preis einem Computer seine Adresse und seine Telefonnummer angeben, ferner das Buch, die Schallplatte, den Artikel oder den Film, für die er Diskussionspartner sucht. Innerhalb weniger Tage würde er durch die Post eine Liste mit den Namen derjenigen Personen bekommen, die zur selben Zeit dieselbe Initiative ergriffen haben, und könnte telefonisch ein Zusammentreffen mit ihnen vereinbaren" (S. 14). Ob Illich die Entwicklung der Internet-Newsgroups zwischen 1994 und 2000 zur Kenntnis nahm? Wie er wohl heute staunen würde, ob der Vielfalt der sozialen Medien, der Online-Kooperationsspiele und Wissenserwerbsquellen. Illich wäre auf jeden Fall im #Twitterlehrerzimmer, nur es hieße natürlich anders.

 

Ivan Illich: Plädoyer für die Abschaffung der Schule, S. 16

 

8. Die Schluss-Pointe Illichs

 

Wir wissen schon, dass die Schule in der Sichtweise Illichs eine bestimmte Funktion hat, hier wird diese noch einmal pointiert: "Nicht nur durch den formellen Unterricht der Schulen und Universitäten, sondern auch durch Werbung, Produktdesign usw. werden Entmündigung und Anpassung an vorgegebene Rollen gefördert" (S. 14). Und weiter: Die Schule ist zu einem unentbehrlichen Mittel geworden, um die für eine verwaltete Konsumentengesellschaft spezifischen Gewohnheiten und Bedürfnisse zu produzieren. Sie produziert Abhängigkeiten und Rangunterschiede, ungeachtet der eventuellen Bemühungen einzelner Lehrer, das Gegenteil zu erreichen" (S. 15). Man erkennt hier noch die Kapitalismuskritik in der Konsumkritik. Wir erkennen hier aber auch, warum die ökologische Krise heute so tief verankert ist. Man denke nur an die Größenordnungen von Schüler und Schülerinnen, die an den #Fridays4Future interessiert waren im Vergleich zur großen Masse (in vielen nicht allen Schulen), denen die Zukunft des Planeten noch nicht zum "Herzensanliegen" geworden ist. Eins ist auf jeden Fall sicher: Ob Schulen eine Nachhaltigkeitsplakette neben der Eingangstüre haben, sagt noch nichts über die Fähigkeit dieser Schulgemeinde aus, für eine lebenswerte Zukunft zu streiten.

 

Zum Schluss (im Kursbuch) führt Illich jenen Hauptgedanken (noch einmal) vor, der 50 Jahre später, nach 13 Monaten Pandemie, immer stärker ins Bewusstsein drängt, auch deshalb, weil engagierte Kolleginnen und Kollegen die gewünschten Veränderungen anpacken: "Es gibt einige Beispiele dafür, dass verantwortliche Personen sich der Tatsache bewusst geworden sind, dass das der Vergabe von Zertifikaten dienende Schulsystem nicht länger als das zentrale Bildungsinstrument einer modernen Gesellschaft angesehen werden kann" (S. 16). Aus meiner Sicht führt das zwei Perspektiven vor Augen: Einerseits die Notwendigkeit einer Revolutionierung der Methoden und Arbeitsweisen, durch die Schülerinnen und Schüler Zertifikate erhalten, die Konsequenz besteht darin, zeitgemäße Prüfungsformate in den "alten Schulen" zu fordern und Beispiele zu geben, ebenso wie es das neu gegründete Institut vorstellt. Die zweite Perspektive besteht darin, anzuerkennen, dass wesentliche Skills und Haltungen auch jenseits der Schule, also informell und "nebenher", selbst organisiert, wie z.B. im oben angesprochenen BTE Germany-Projekt, entwickelt und gelernt werden. Schule sollte nicht um jeden Preis versuchen, dieses informelle Lernen in die Schule zu holen. Das spiegelte nicht nur eine gewisse Überheblichkeit des Systems Schule wider, sondern würde echtes Lernen, echte Kompetenzen, ausgebildet in lebensechten Problemlagen, wie z.B. "Wie organisiert macht sich eigentlich als Community, wenn man eine zweite Erde in Minecraft nachbauen möchte?", durch zerstückelte Lehrpläne (die manchmal auch Medienkompetenzrahmenpläne heißen) möglicherweise wieder zurückfahren, degenerieren lassen und durch vorgetäuschte Kompetenzen abfragefähig machen. - Damit wechselt die Perspektive: weg von den Abschlussprüfungen, hin zu den Assessment-Centern, in denen sich die Frage nach den zeitgemäßen Prüfungsformaten erneut stellt, die aber offener auf nicht nur formell gelernte Kompetenzen, sondern auch auf die informell gelernten Kompetenzen ausgerichtet sein können.

 

 

9. 13 Monate Pandemie: Wie war das noch mit dem Brennglas? Die Angst der (Wohlfahrts-)Bürokratie

 

Wissen wir jetzt mehr? ist vielleicht nicht die richtige Frage. Nach der archäologischen Arbeit oben können wir eher nach der Zusammensetzung des heutigen Wissens fragen. Vielmehr will ich (wie Foucault) zeigen, aufgrund welcher Diskurse und Kontexte welches Wissen möglich wurde (vgl. noch einmal Handbuch, S. 220). Das ist häufig nicht eine ganz andere, aber doch ggf. vielschichtigere Geschichte als die herkömmliche. 

 

Im "Kampf um den Präsenzunterricht" haben wir in den letzten 13 Monaten tatsächlich den Versuch der Wohlfahrtsbürokratie, ergo Schulministerien, gesehen, die alten Formen der Schule mit der Zertifikatsfunktion aufrecht zu erhalten. Das ist nur zu verständlich. Der Kampf um die Aufrechterhaltung wird für die Institutionen gefochten.  Während die eine Schulministerin gegen alle Personalräte schneller vorangehen möchte, um neue kulturelle Kompetenzen in einer Kultur der Digitalität aufzubauen, will der andere Schulminister die Digitalisierung eher nutzen, um die bestehenden Lücken im formellen Bildungssystem durch privatwirtschaftliche Formatergänzungen (personalisierte Bildung) anzureichern. Egal was alle in einem gegebenen Subsystem wollen, sie handeln auch immer als Gefangene eines gegebenen Systems von Loyalitäten, Abhängigkeiten und Systemlogiken.

 

Die neuen Möglichkeiten, die in der Pandemie entstanden sind, also im Wesentlichen mit Distanzunterricht, stellen eine Art "Zwischenlösung" dar, also eine Lösung zwischen der Beschulung im Schulgebäude einerseits und dem (verbindlichen) Angebot andererseits, sowohl Fertigkeiten im Distanz-Skill-Center als auch Haltung, v.a. durch peer matchings (im Zweifel ebenfalls auf Distanz), zu realisieren. Sie verweisen durchaus auf das Heraufziehen zweier Zeitalter jenseits der Pandemie, die nicht miteinander kompatibel sind: Das eine wäre geprägt von Digitalisierung und personalisierter Bildung, die im Zuge von Lehrer*innen-Mangel und Beschneidung von finanziellen Mitteln (nach der Pandemie) eine doppelte Mängelverwaltung darstellen würde. Das andere wäre geprägt von persönlicher Bildung, in der die Phantasie der tendenziellen Auflösung des Schul- oder Klassenzimmers erhalten bleibt. Diese Richtung schafft nicht nur "neue Räume" für das Lernen, indem es Türen öffnet, Wände niederreißt und neue Möbel anschafft, sondern auch dadurch, dass es die Kultur der Digitalität ernst nimmt, d.h. z.B. konkret,

 

  • dass Präsenz- und Distanzphasen sich weiterhin abwechseln können (vgl. die FREIDay-Idee),
  • dass informelles Lernen durch Projekte ein wenig in die Schule hineingeholt wird, die Schule sich aber zurückhält und nicht alle informellen Kompetenzen schulprüfungsrelevant werden lässt,
  • dass Lernzeiten und Leistungszeiten klar voneinander, für jede und jeden ersichtlich getrennt werden (getrennt bleiben),
  • dass Lehrer*innen den Gestaltwandel als Medien-Co-Produser*innen habitualisieren,
  • dass neben den drill teaching-Elementen endlich mehr Raum geschaffen wird, dass Schülerinnen und Schüler eine Haltung gewinnen (können), die am Erhalt demokratischer Gesellschaften und eines lebenswerten Planeten ausgerichtet sind,
  • dass die alten Fächer und die Grenzen zwischen ihnen endlich fallen und damit auch der Fächerkanon transformiert werden kann;
  • dass Schüler*innen endlich Prüfungsformate angeboten bekommen, die der Lebenswelt gerecht werden und sie nicht mehr als potentielle Betrüger*innen wahrgenommen werden ... (Liste wird fortgesetzt!).

 

 

X. Essayistische Schlussfolgerung meinerseits

 

Ivan Illich proklamierte, dass jedes politische Programm für die siebziger Jahre danach beurteilt werden müsste, "wie klar es die Notwendigkeit der Entschulung" anerkennt (vgl. S. 16); heute, 50 Jahre danach, müsste man das für die 20-er Jahre des 21. Jahrhunderts neu formulieren. Jedoch soll hier nach getaner archäologischer Arbeit und dem Aufwerfen der sieben Punkte noch einmal politisch verdichtet werden:

 

So könnte dann die Zukunft aussehen: Systemstabilisierenden Praxen (im Schulsystem) können in einer alternativen Realität (also in meiner positiven Utopie) in verbindlichen Skills (Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch, informatische Bildung) und frei buchbaren Skills (hier setzen Sie einfach alles ein, was Ihnen einfällt; ich fange nur mal an: gesund Leben und gesund Kochen, Ökosysteme vor Ort, etc.), via eines Creditsystems bestehen. Jeder Schüler, jede Schülerin hat in diesem System zunächst bis zum 25. Lebensjahr unendlichen Kredit. (in meiner Utopie bekommen alle jungen Menschen am Ende der Aus-Bildungs-Periode etwa 150.000 Euro gutgeschrieben, also so, wie es der Ökonom Thomas Piketty fordert). Die transformierenden Praxen (die auch das althergebrachte Schulsystem teilweise übersteigen) bestehen dann einerseits aus kooperativ kreativen und kritischen Lernszenarien, die mal in virtuellen, mal in realLive Begegnungen stattfinden. 

 

Andererseits käme die neue Praxis in einer zeitgemäßen Prüfungskultur zum Ausdruck ("Die heutigen Prüfungen bracht kein Mensch", Axel Krommer im Interview mit Freiwald), die - bundesweit organisiert (siehe: pruefungskultur.de) - zu unterscheiden weiß zwischen echten und vorgetäuschten Kompetenzen. Dass man sich vorgetäuschte Kompetenzen zunächst auch einmal leisten können muss, weiß Krommer in seinem Essay im Abschnitt "Kompetenz-Simulation als Markt", zu berichten (vgl. Krommer 2021).

 

 

Literatur: