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Schule 4.0 oder: Warum Schule der Zukunft ganz anders sein könnte

Wirklich schade: Aufgrund von Corona und Covid19 wird es keine re:publica20 geben. Höchste Zeit also noch einmal einen spannenden Vortrag von der re:publica19 vorzustellen. ich habe diesen mit ein paar Gedanken zur aktuellen Krise verknüpft. Am Ende meiner Gedanken folgt ein Doppelpunkt. Alles weitere liefert dann der über Youtube verfügbare Beitrag von Bröker.

Bild von ooceey auf Pixabay

 

1. Der Anstoß

 

Die Schulen sind nun also in das kalte digitale Wasser geworfen worden. Normaler Unterricht, "wie er früher einmal war", wird in normaler Klassenstärke über Monate hinaus nicht zu realisieren sein (Stand: 19.4.2020). Zu befürchten ist, dass sich die Lehrkräfte in den Schulen (also minus Risikogruppen) aufreiben müssen, um Abstands- und Hygiene-Regeln zu exekutieren. Irgendwie werden sie auch nebenbei noch Distanz-Unterricht erteilen müssen. In dieser Konstellation kommt nun wirklich das Negative der Krise zum Ausdruck, mögliche Innovationen müssen sich gegen mächtige und mächtiger werdende Kräfte durchsetzen, die ganz einfach nur wieder zu den bekannten Verfahren der Vergangenheit zurückkehren möchten. Je radikaler die Krise, desto stärker auch die "Rückkehrwünsche"; schlimmer noch als in Bildungsumgebungen wird sich dieser Trend im Politischen ausdrücken. Womöglich ist der Abstieg des Populismus in der Krise nur eine Momentaufnahme. Aber das nur am Rande, jetzt zurück in den Bildungskontext.

 

Die Krise ist auch die Zeit, in der Ideen, radikale Ideen, die meist schon vor der Krise erdacht wurden, punktuell sichtbar werden. Besonders gut wirken in diesen Zeiten Berichte aus jenen Schulen, die "etwas (digitales) auf die Beine gestellt bekommen". Manche schaffen es, im gemeinsamen Tun von Lehrerinnen, Eltern und Schüler*innen eine Digitalisierung mit Elementen einer (guten) Kultur der Digitalität zu realisieren. Besonders bemerkenswert ist das immer dann, wenn es Grund- oder Förderschulen schaffen, weil es von ihnen zunächst nicht erwartet werden kann. Krisenzeiten sind aber auch Zeiten, in denen das Machbare in den Vordergrund drängt, also das, was in diesen Zeiten unter diesen Bedingungen möglich ist. Dabei fällt dann auf, dass die Bedingungen nicht so gut sind: Die Lehrer*innen verteilen unkoordiniert Arbeitsblätter, insgesamt sind sie noch nicht "im Digitalen angekommen", wie es oft heißt. Dazu kommt die soziale Schieflage, die die Krise nochmals befeuert: Da keine digitalen Endgeräte vorliegen, können manche Schüler*innen nicht digital arbeiten; da die wirtschaftlichen Verhältnisse es nicht zulassen, in einem Haushalt mehrere internetfähige moderne Geräte und eine entsprechende Bandbreite vorzuhalten, vergrößert sich die Bildungsungerechtigkeit. Verschärft wird die Lage durch die Verzögerung beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. 

 

Deutschland hat den Wandel verschlafen, sagt man. Auch die Bedenkenträger haben auf breiter Front gesiegt. Dennoch: Mit unendlich viel Kreativität versuchen die Kreativsten unter den Kreativen nun trotz Krise voranzukommen. Und das Verrückte ist: Es gelingt auch einigen. Da digitalisieren sich ganze Kollegien etwa durch die Verwendung von MS TEAMS, da werden alte Computer hervorgeholt, technisch überprüft und an bedürftige Schüler*innen weitergereicht. Diese Beispiele sind nur ein winziger Ausschnitt von Initiativen, von denen das Twitterlehrer*innenzimmer (#twlz) jeden Tag berichtet. Vor diesem Engagement ziehe ich meinen virtuellen Hut.

  

 

2. Lösungswege

 

Ich wollte jedoch auf etwas anderes hinaus: Durch das Vordrängen des Machbaren geraten nicht nur einige digitale Leuchttürme an die Oberfläche, sondern gleichzeitig geraten andere revolutionäre Visionen des Lernens in den Hintergrund. Und dies geschieht, obwohl die technologischen Grundlagen für die Revolution schon seit 20 oder 25 Jahre hardwareseitig und softwareseitig vorhanden sind. 

 

 

Doch um welche Gedanken handelt es sich, die radikaler und visionärer das Lernen der Zukunft beschreiben und die zunächst vom "Machbaren" in den Hintergrund gedrängt werden? Es sind die Ideen derjenigen, die in Multiplayer-Online-Games die Zukunft des vollständig intrinsischen Lernens ausgemacht haben. Schließen Sie einmal die Augen, denken Sie sich jetzt "leeren digitalen Raum" auf Basis von IKT-Infrastrukturen mit minimaler Ausstattung (so wie Twitter für Sie aussah als Sie sich zum ersten Mal angemeldet haben). Stellen Sie den Raum nun zur Verfügung; so haben es Facebook, Instagram, TikTok und alle anderen gemacht und so haben es die Massively Multiplayer Online Games (Anm. 1+2) gemacht. Stellen Sie sich nun vor, dass sich dieser Raum mit Menschen, bzw. mit der Kommunikation von Menschen bevölkert. Der Unterschied zwischen Lehrenden und Lernenden verwischt. Menschen schreiben sich nun in diese Räume ein, sie "datafizieren" den Raum, sie erstellen Medien (Anm. 3). Hier verschmelzen Spiele-Welten und Social-Media-Welten zu einer einzigen Welt. 

 

[Ergänzung I 26.4.20, Hinweis via Geekweek E326] Am 24.4. trat der Rapper Travis Scott in Fortnite auf, also sein Avatar. Das Konzert wurde von 12,3 Millionen Zuschauern / Spielern verfolgt und sorgte für einen neuen Teilnehmer-Rekord auf Fortnite. Schön früher hatte es z.B. Filmpremieren als Film-im-Spiel gegeben. Auf diese Art und Weise mausert sich Fortnite zum größten Social-Gaming-Media-Adventure der Welt. Von dort an ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Social-Learning-Media-Adventure.

 

 

In dieser Welt können wir uns viele Herausforderungen denken, z.B. "Wie befrieden und kontrollieren wir ein gewisses Gebiet (z.B. eine Insel ;-))? Wie können wir eine menschliche Zelle bauen, die aus Sonnenlicht Energie gewinnt? Wie können wir den bellum omnium contra omnes (z.B. auf einer Insel) durch einen Gesellschaftsvertrag beenden? Wie wird es möglich sein, eine solare Wasserstoffwirtschaft aufzubauen? Wie realisiert man Gerechtigkeit durch Wohnungsbau? Und vieles andere mehr. Meine These lautet: Wenn Sie nach der Schule der Zukunft suchen, dann ist es wahrscheinlicher, dass Sie sie in "Fortnite - The Renaissance (Kapitel 4)" oder in "Grand Theft Auto VII" finden als an dem Ort, an dem sie heute angesiedelt ist (Anm. 4). Lösen Sie sich von der Idee des realen Gebäudes! Wie in vielen virtuellen Umgebungen zukünftig gelernt wird und warum das Lernen intrinsisch ist, das hat Thomas Bröcker auf der Re:publica19, Abteilung #MediaConventionBerlin ausgeführt. In dem knapp 30 minütigen Vortrag kann man z.B. erfahren, was man alles lernt, wenn man ein Raumschiff bauen oder fliegen will (Das vorgestellte Spiel ist Eve Online. Eine besondere Pointe findet man bei Minute 21). Lesen Sie den Text bitte erst nach dem Video-Beitrag weiter:

 

Thomas Bröcker auf der #MediaConventionBerlin 2019

 

[Ergänzung II, 26.4.20, Möglich geworden durch Philippe Wampfler, siehe unten] Ready to Onboard? Sie werden jetzt sicherlich nicht mehr überrascht sein, dass sich auch der "Unterrichtseinstieg" (ein Element legendärer Missverständnisse!) verändern wird. Einstieg - in was einsteigen? In die Social-Learning-Media-Welt. Wampfler hat sich genau angeschaut, wie die Pädagogik in Computerspielen funktioniert. 

 

Philippe Wampfler an der Uni-Frankfurt 2019

 

Zwei Anfangs-Prinzipien aus dem Vortrag:

 

"Show don't tell"

"just do it!"

 

 

Wie beginnt eigentlich ein Spiel in der Gegenwart? Lesen die Gamer "Manuals", also Spielanleitungen, merken sich zu jeder Tastatur-Taste eine ausführbare Aktion? Letzteres schon, jedoch kommen die Gamer auf eine andere Art und Weise an die Kenntnisse, sie lernen anders. Wampfler hat sich genau angeschaut, wie das heute funktioniert. Der Onboarding-Prozess "ist die Phase eines Spiels, in der erklärt wird, wie das Spiel funktioniert, wie es bedient wird, was Erfolgskriterien sind" (Wampfler, 2020). Dabei fällt auf, dass das Lernen a) in das Spiel integriert ist und b) damit selbst Spiel geworden ist: "Ein Spiel beginnt das Onboarding mit einer Spielsituation, in der Novizinnen und Novizen bereits handeln können. Sie probieren in einem didaktisch reduzierten Setting aus, wie das Spiel funktioniert. Dabei wird eine kleine Geschichte erzählt, sie erhalten bereits Figuren oder Spielelemente, mit denen sie ihre Spielidentität und -Narration verbinden können" (Wampfler 2020). (Das Onboarding ist eines vor vier Elementen des Einstiegsprozesses in Games: Discovery-Onboarding-Scaffolding-Endgames (vgl. Wampfler 2019, 37:46 min)).

 

Die Pointe von Wampfler, der das Onboarding auf die Schule und den Unterricht überträgt, ist die Folgende: "Es ist, als würden Schulen am ersten Schultag einfach mit einer Schulstunde beginnen, die Spaß und Lust auf mehr macht, statt zu erklären, wie Schule funktioniert, Hefte und Bücher auszuteilen, ein Konzert und Ansprachen abzuhalten". (ebd.). Aus meiner Sicht ist das den Schulen nicht ganz unbekannt. Es ist ein bisschen so, wie am "Tag der offenen Tür": Die Viertklässler werden an der weiteführenden Schule auch gleich möglichst in das Geschehen involviert, frei nach dem Motto: "Macht mit, so geht Unterricht und Lernen bei uns!" (Und nicht: "Seht her: So könnte es euch auch ergehen"). Also wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung: Mehr Unterricht wie am Tag der offenen Tür, mehr Tage, schließlich alle Tage als "offene Tür", schließlich sind alle Tage zugleich Tage des offenen Unterrichts. Schule verändert sich so im besten Sinne in ein Game based learning. In diesen Schulen würde dann mit didaktisch integrierter digitaler Technik so etwas wie "kulturelle Bildung" (die Technik tritt schon wieder in den Hintergrund) und vor allem "persönliche Bildung" (Wampfler) möglich. Schule muss sich der veränderten Aufmerksamkeitsstruktur der Schülerinnen und Schüler zuwenden. Tut die Schule es nicht (und gewinnen wir nicht den Großteil der Lehrkräfte dafür), dann werden die Plattformen übernehmen, dabei tendenziell Lehrkräfte durch Technik ersetzen (Lehrer*innen-Mangel!) und schließlich mit Hilfe von Automaten und Algorithmen das Gegenbild von persönlicher Bildung, personalisierte Bildung, realisieren (Beide Begriffe ebenfalls von Wampfler 2020). Die Aluhut-Träger unter den Lehrkräften müssen verstehen, dass die digitale Technik die heutigen Schüler und Schülerinnen schon weitgehend verändert hat und dass das Draufzugehen eine Selbstverständlichkeit aller Pädagogen seit Sokrates war: die Kinder / Schüler*innen in ihrer Lebenswelt abholen und Lerngelegenheiten in dieser Lebenswelt anlegen. Wampfler zitiert im oben angegebenen Vortrag Aßmann 2016, ich übernehme das Zitat vor dort:

 

"Wenn man Erfahrungs- und Lernprozesse in formalen und in informellen Kontexten als Kommunikationscodes interpretiert, muss Schule versuchen, im Sinne einer Schalterfunktion die unterschiedlichen Netzwerke, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen, durch eine Übersetzungsleistung anschlussfähig zu machen (…)

Ein deutlichen Missverhältnis liegt vor, wenn Kinder und Jugendliche erfahren, dass ihre medienbezogenen außerschulischen Handlungsweisen in der Schule nicht 'gefragt' sind".

 

Die Lehrkräfte, die sich bisher nicht darauf eingelassen haben, taten dies nicht aufgrund mangelnder kognitiver Einsicht. Sie müssen und können für diesen Schritt vielmehr "emotional abgeholt" werden. Niemand ist verloren.  

 

Disclaimer: Philippe Wampflers Empfehlung läuft im oben genannten Vortrag nicht auf eine durchgängige Gamifizierung von Schule und Unterricht hinaus.

 

Anmerkungen:

 

(1) Der Begriff Massively Multiplayer Online Game (MMOG oder MMO), deutsch auch Massen-Online-Gemeinschaftsspiel, bezeichnet einen Typ eines Computerspiels, das den Spielern eine virtuelle persistente Welt bietet und von sehr vielen (häufig mehreren tausend) Spielern (Mehrspieler) gleichzeitig über das Internet gespielt werden kann. Typischerweise interagieren und kommunizieren die Spieler miteinander und prägen somit das Fortschreiten in der virtuellen Welt gemeinsam. (https://de.wikipedia.org/wiki/Massively_Multiplayer_Online_Game, 15.4.2020).

 

(2) Ein Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (auch „Massive“ statt Massively, abgekürzt MMORPG, übersetzt Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel) ist eine Sonderform eines Massively Multiplayer Online Game und dabei ein ausschließlich über das Internet spielbares Computer-Rollenspiel, bei dem gleichzeitig mehrere tausend Spieler eine persistente virtuelle Welt bevölkern können. Die eigentliche Spielwelt und die Avatar genannten Spielfiguren der Spieler werden auf Servern verwaltet. Der Spieler verbindet sich typischerweise über ein Clientprogramm mit dem Server. Der Client enthält üblicherweise nur die Daten zur Darstellung der Spielwelt (Grafik, Objekte, Musik, …), während die Spielmechanik auf dem Server verwaltet und verarbeitet wird.(https://de.wikipedia.org/wiki/Massively_Multiplayer_Online_Role-Playing_Game, 15.4.2020)

 

(3) Nutzergenerierte Inhalte können ein weiterer Aspekt von MMORPGs sein. Am Anfang stand die Ultima Online Welt, die leere, 30-seitige Bücher bereitstellte, in die Spieler selbst schreiben konnten. Diese konnten in persönliche Bibliotheken gesammelt und mit anderen Spielern getauscht werden. In den folgenden Jahren konnten Spieler Häuser gestalten und bauen. Einige nicht-kampfbasierte Massively Multiplayer Online Role-Playing Games bauen sehr stark auf von Spielern erzeugten Spielinhalt, beginnend mit einfachen Animationen bis hin zu kompletten Gebäuden inklusive der Texturen wie in A Tale in the Desert. (https://de.wikipedia.org/wiki/Massively_Multiplayer_Online_Role-Playing_Game, 15.4.2020)

 

(4) Die beiden hier genannten Spiele sind allerdings keine MMOGs. Sie stehen hier als Platzhalter, weil Sie bekannter sind (Fortnite) und weil sie radikal zugespitzt von der dunklen Seite der Macht handeln (Grand Theft Auto). Die Namen der Spiele-Fortsetzungen sind von mir erfunden.

 

 

Literatur:

 

 

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