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Begriffe bestimmen: Digitalität und Virtualität

Die Philosophie in Wissenschaft und Lehre (Didaktik und Unterricht) hat das Privileg, die grundlegenden und fundamentalen Fragen der Menschheit zu verhandeln. Eine dieser grundlegenden Tätigkeiten ist die Klärung und Erläuterung von Begriffen. Auch wenn die anderen Wissenschaften in der Regel mit der Definition von Begriffen beginnen, bleibt es der Philosophie - zumindest in einigen Fällen - vorbehalten, auch für die anderen Wissenschaften ein Fundament zu legen. Einer dieser Begriffe, dem sich die Soziologie, die Kulturwissenschaften usw. seit etwa zehn Jahren intensiv widmen und der dennoch auf eine philosophische Fundierung wartet, ist der Begriff der Digitalität.

Grafik von Gerd Altmann auf Pixabay

Einer, der sich dieser Aufgabe gestellt hat, ist Jörg Noller, derzeit Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie in Konstanz, der mit „Digitalität. Zur Philosophie der digitalen Lebenswelt“ eine Grundlegung vorgelegt hat. Mit Noller lässt sich nun festhalten, dass sich die Philosophie nicht nur von den „soziologischen, technologischen und ökonomischen Zugängen zum Phänomen der Digitalisierung abgrenzen [muss], sondern es gilt: „Die Philosophie der Digitalität [...] fundiert vielmehr die anderen Zugänge, indem sie die jeweils zugrundeliegenden Begriffe, vor allem diejenigen von Simulation, Fiktion, Virtualität und Realität kritisch reflektiert und aufeinander bezieht“ (Noller 2022, S. 9, Herv. i.O.). Im Folgenden beziehe ich mich zunächst ausschließlich auf Nollers Kapitel „Was ist Digitalität?“, um in aller Kürze möglichst viele Begriffe und Zusammenhänge zu klären, im Wesentlichen aber zwei: Digitalität und Virtualität.

 

Im Zusammenhang mit der Erschließung von Felix Stalders „Kultur der Digitalität“ ist es in den letzten ca. sechs Jahren gelungen, grundsätzlich zwischen Digitalisierung und Digitalität zu unterscheiden. Insofern wissen wir, dass Digitalisierung grundsätzlich die Technisierung und Überführung ehemals analoger Materialien und Zustände in digitale, also diskrete Zustände beschreibt (vgl. Schöngarth 2019). Was eine „Kultur des Digitalen“ hingegen genau bedeutet, ist außerhalb der Wissenschaften bis heute eher weniger verstanden. Das liegt vordergründig an der begrifflichen Konstruktion, tatsächlich aber schon am Begriff der Digitalität selbst.

 

„Digitalität ist also“, schreibt Noller, „kurz gefasst, die qualitative, lebensweltliche Seite der Digitalisierung […]. Indem die Digitalisierung nicht mehr nur eine technische Entwicklung darstellt, sondern selbst Teil, ja Struktur unserer Lebenswelt wird, wird sie zur Digitalität“ (Noller 2022, S. 8 u. 9, Herv. i.O.). Digitalität ist eine neue, besondere Qualität, die Stalder vorbereitet hat und auf die sich Noller direkt bezieht: „Das Wort ‚Digitalität‘ [wird] als Fusion von ‚digital‘ und ‚Realität‘ erklärt […]“ (Noller 2022, S. 10). Das Digitale ist also zu einer eigenen Realität geworden, was zahlreiche Konsequenzen hat.

Grafik von Gerd Altmann auf Pixabay

Während Stalders soziologischer Blick auf die neue „Kultur“ (der Digitalität) vor allem den Formen galt, in denen sich diese Realität manifestiert (Referentialität, Gemeinschaftlichkeit, Algorithmizität, vgl. zur Erläuterung u.a. Schöngarth 2019), konzentriert sich Noller auf die Phänomene des Paradigmas der Digitalität und hebt hier vor allem drei hervor: Internet, Künstliche Intelligenz und Computerspiele. Diese Phänomene der Gegenwart sind miteinander vernetzt und verändern „nicht nur unsere Weise der Wahrnehmung der Welt, sondern es emergieren auf ihnen neue Realitäten“ (Noller 2022, S. 9).

 

Der erste Erkenntnisgewinn für uns könnte darin bestehen, dass wir zu der Einsicht gelangt sind, dass nicht mehr alle Menschen die gleiche Wahrnehmung einer vermeintlich unhintergehbaren Realität haben und dass die Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlichen Lebenszugängen deutlich erschwert ist, denn es gibt

 

a) Menschen, die sich der klassischen, nicht-digitalen Realitäten bewusst sind und deren Leben in der Regel vollständig in den klassischen Realitäten aufgeht,

 

b) Menschen, die um klassische und digitale Realitäten wissen und die zwischen den klassischen und digitalen Realitäten hin und her wechseln (vgl. die hervorragenden Erläuterungen zu jenen in Baricco 2019, etwa S. 80, HERVORHEBUNG i.O.: Für jene Menschen „entstand eine Art EXTRAWELT, die aus den winzigen handwerklichen Beiträgen eines jeden hervorging. Sie schien zwar irgendwie künstlich, war dafür aber sehr viel zugänglicher. Am Eingang wurden minimale Referenzen verlang, man musste sich nur einen Computer kaufen können, und von da an schien es weder ökonomisch noch kulturelle Hindernisse mehr zu geben, Reisen in die Extrawelt waren frei und kostenlos. Verrückt.“).

 

c) Menschen, die im Wesentlichen die digitalen Realitäten kennen, weil sie vollständig in ihnen leben. Das sind all jene, von denen Floridi schon wusste, dass es sich hierbei um eine Generation handelt, und er prägte ein neues Kunstwort, um die ganze Dramatik zu beschreiben: „Die Generation Z kam onlife zur Welt“ (Floridi 2015, S. 68). 

 

Während es schwierig ist, genau zu bestimmen, wer zu den Gruppen a und b gehört, ist die deskriptive Antwort zu c einfach: Es handelt sich um alle Personen, die etwa 23 Jahre alt oder jünger sind, in der Regel (noch) zur Schule gehen oder die Schule in den letzten fünf Jahren verlassen haben. Was wir auf jeden Fall wissen ist, dass die Kommunikation über die jeweilige Lebenswirklichkeit von Menschen aus Gruppe a und Gruppe c extrem schwierig ist. Manchmal treffen diese jedoch zusammen, v.a. in Schulen.

Bild von Joseph Mucira auf Pixabay

Doch zurück zum Begriff der Digitalität und den drei Phänomenen Internet, künstliche Intelligenz und Computerspiele. Noller fordert eine neue Aufklärung, denn er spricht mit McLuhan von einer neuen Medienblindheit. Diese Medienblindheit besteht darin, dass wir bisher nur auf den „Inhalt“ der digitalen Medien geschaut haben. Mit McLuhan und Noller wissen wir aber, dass uns dabei - folgen wir McLuhans berühmtem Diktum „the medium is the message“ - der tiefere Blick auf das Medium und damit „auf“ oder „in“ diesem Medium entstehende Wirklichkeiten, die zuerst oder nur dort entstehen, fehlt.

 

Wir versuchen in der Gegenwart, vor allem in den „Zwischenbereichen“ von Wissenschaft und Bildung, mit Blick auf Schule und Unterricht, eine Kultur der Digitalität zu etablieren, statt uns einfach der Digitalisierung auszusetzen. In diesem Verständnis hat das Begriffskonstrukt einen normativen, ja präskriptiven Charakter, der auch manche zurückhaltende Reaktion erklären mag. Während Stalder als Soziologe zunächst rein deskriptiv vorgeht, weiß Noller, dass schon der Begriff der Digitalität schwach normativ wirkt: „Er beinhaltet nicht nur eine Bestandsaufnahme der Digitalisierung, sondern setzt ein Ideal, welches lebensweltliche Bedeutung für die Digitalisierung haben soll. Digitalisierung soll demnach nicht nur separate technologische Bedeutung haben, sondern sich so nahtlos in unsere Lebenswelt fügen, so dass sie nicht als technokratisch erfahren wird, sondern unsere Freiheiten in qualitativer und moralischer Hinsicht vergrößert“ (Noller 2022, S. 14). Dadurch wird deutlich, dass der Fokus bei Digitalität im Gegensatz zu Digitalisierung nicht mehr „auf der technologischen Dimension digitaler Medien liegt, sondern auf jener Realität, die auf ihnen emergiert und somit nicht allein instrumentelle, sondern vielmehr lebensweltliche Bedeutung erlangt“, schreibt Noller (Noller 2022, S. 19). Mit dieser „lebensweltlichen Bedeutung“, die deutlich jenseits einer „technologischen Dimension digitaler Medien“ angesiedelt ist, wird u.a. deutlich, warum Didaktiker:innen häufig und vielleicht etwas unscharf von postdigitalem Unterricht sprechen, wenn sie gleichzeitig eine Kultur der Digitalität einfordern.

Bild von Pete Linforth auf Pixabay

Nachdem sich Noller mit der methodologischen Funktion des Begriffs auseinandergesetzt hat und zeigen konnte, dass mit der kritischen Verwendung des Begriffs drei Tendenzen im Digital-Diskurs zurückzuweisen sind (Ideologisierung der digitalen Technik, Abgrenzung zur Banalisierung, Dramatisierung der digitalen Technik, vgl. Noller 2022, S. 15 ff.), kann er den Begriff Digitalität mit Floridi in seiner transformativen Qualität erfassen (Vgl. Noller 2022, S.  18): Wir wissen mit Floridi, dass es längst nicht mehr und die Entscheidung geht, zwischen Technophobie oder Technophilie zu entscheiden, sondern jenseits dieser Verengung eine ‚verbindende Perspektive‘ zu gewinnen. Floridi weiß, dass in der Digitalität die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) viel mehr sind als nur Werkzeuge in den Händen von Menschen (und Lehrenden, vgl. zur Auseinandersetzung zum Werkzeugbergriff Krommer 2019). Floridi schreibt: 

 

„In Wahrheit sind aus ihnen [gemeint sind die IKT] umweltgestaltende, anthropologische, soziale Kräfte geworden. Sie schaffen und prägen unsere geistige und materielle Wirklichkeit, verändern unser Selbstverständnis, modifizieren, wie wir miteinander in Beziehung treten und uns auf uns selbst beziehen, und sie bringen unsere Weltdeutung auf einen neuen, besseren Stand, und all das tun sie ebenso tief greifend wie umfassend und unablässig“. (Floridi 2015, S. 8). 

 

 

Fasst man nun all das zusammen, was oben ausgeführt wurde, also die Phänomene der Digitalität, auf denen neue Realitäten entstehen, verstanden auch als jene EXTRAWELTEN, die durch die Computerisierung in den 1990er Jahren entstanden sind, zusammengefasst als Informations- und Kommunikationstechnologien, dann haben wir einen umfassenden Begriff der Digitalität, den Noller als „Form virtueller Realität“ fassen will (vgl. Noller 2022, S. 18 f.).

Mit diesen Vorüberlegungen wird deutlich, dass wir die Digitalität nun der Form nach ansprechen und erkennen können, nämlich in Form der virtuellen Realität, die Baricco 2019 mit „Extrawelt“ konzeptionell vorbereitet hat. Gleichzeitig erkennen wir, dass diese virtuelle Realität nicht identisch ist mit bloßen Simulationen oder Illusionen, denen wir begegnen können, wenn wir großformatige sogenannte virtuelle Headsets oder virtuelle Brillen aufsetzen, die uns eine gewisse Immersion in simulierte Welten ermöglichen und uns, je besser sie werden, der Illusion aussetzen, in einer anderen Welt / Realität (angekommen) zu sein.

 

Warum also müssen wir uns mit dem Begriff der virtuellen Realität auseinandersetzen? Dazu Noller: „Digitalität ist mehr als nur die Summe der neuen Medien. Digitalität ist nur in zweiter Linie ein technologisches Phänomen. Primär ist Digitalität ein Phänomen virtueller Realität, ja virtuelle Realität ist der Schlüsselbegriff zum Verständnis der Digitalität“ (Noller 2022, S. 20). Zwei Seiten weiter bestimmt Noller die Aufgaben der Philosophie der Digitalität, indem er nun mit dem Leitbegriff „virtuelle Realitäten“ die Gesamtheit dessen erfasst, was in allen digitalen Medien entsteht / emergiert. Dabei bezieht sich der Begriff der virtuellen Realität immer kritisch auf das, was er nicht ausdrückt: Simulation, Illusion und Fiktion (vgl. Noller 2022, S. 22).

 

Wir können nun (u.a. mit Floridi, s.o.) nachvollziehen, dass, wie Noller schreibt, ein „lebensweltliches Kontinuum“ entsteht, indem wir durch den Einsatz digitaler Medien und Technik die bisherigen Realitäten in virtuelle Realitäten transformieren (vgl. Noller 2022, ebd.) Im nächsten Schritt führt Noller den Begriff der Virtualität an den Begriff der Realität heran. Es gibt keinen Gegensatz mehr (wie ihn etwa virtuelle Headsets suggerieren), „sondern Virtualität wird zu einer genuinen Form und Spezifikation von Realität. Dies erlaubt es, Virtualität im Sinne einer Ontologie der Freiheit zu bestimmen [wie es etwa Baricco exzellent vorgeführt hat, M.S.] und menschliche Existenz als Existenz alternativer Realisierbarkeit zu verstehen, jenseits von bloßer Simulation oder Illusion. Virtualität, so die zentrale These, wird immer mehr als eine Existenz- und Lebensform des Menschen sichtbar, die sich als Ontologie der Alternativität näher bestimmen lässt“ (Noller 2022, S. 24).

 

 

Soweit zur Hinführung und Klärung der Begriffe Digitalität und Virtualität. Im nächsten Schritt, im nächsten Text will ich erneut mit Noller und anderen den Begriff der künstlichen Intelligenz als einem Phänomen der Digitalität erläutern.

 

 

Literatur:

 

Alessandro Baricco (2019): The Game: Topographie unserer digitalen Welt, Hamburg.

Luciano Floridi (2015): Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert, Berlin.

Axel Krommer (2019): Wider den Mehrwert ...., in:  https://axelkrommer.com/2018/09/05/wider-den-mehrwert-oder-argumente-gegen-einen-ueberfluessigen-begriff/

Jörg Noller (2022): Digitalität. Zur Philosophie der digitalen Lebenswelt, Basel. 

Michael Schöngarth (2019): Alles wird digital, in: https://www.m-schoengarth.de/alles-wird-digital/