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Flüchtigkeit der Bildschirme

Etwa 10 Jahre lang (von 1997 bis 2007) habe ich viele Unterrichtsvorhaben um den Gedanken herum konzipiert, dass Schülerinnen und Schüler auf das Bildschirmzeitalter mit einer ganz basalen Kompetenz vorbereitet werden müssen: Auszuhalten, am Bildschirm sinn-entnehmend zu lesen.

Einige Jahre lang geriet mir dieser Gedanke in den Hintergrund (womöglich weil es zu einer Explosion digitaler Geräte im Zuge des iPhone-Urknalls kam und der Bildschirm sich in ganz viele kleine Bildschirme auflöste). Heute will ich den Gedanken erneut lancieren und betonen, dass der "Flüchtigkeit der Bildschirme" durch unterschiedlichste Strategien begegnet werden kann. Ganz bewusst ausschließen will ich hier nur die Facebook- oder Instagram-Strategie (die in etwa besagen würde: All das, was ich selber produziere, Texte, Bilder und Videos, und alles, was ich im Internet finde, will ich auf den beiden Plattformen sammeln, die im Herbst 2018 eine fragwürdige, aggressive Privacy-Werbung geschalten haben, die beworbenen Standards aber nicht eingehalten werden. Vorankündigung: In einen der nächsten Blog-Beiträgen will ich insbesondere Flipboard, Twitter und verschlüsselte Daten in Cloud-Laufwerken als Alternativen präsentieren).  

 

In 1998 schrieb ich unter "Hypertexte und die Flüchtigkeit der Bildschirme":

 

Die Flüchtigkeit von elektronisch vermittelten Medieninhalten ist seit Einführung der Elektronik ein Problem. Nach der unmittelbaren Konsumtion blieb keine Möglichkeit der reflektierten Re-"Lektüre", wie sie beim auf Papier geschriebenen Wort jederzeit möglich war. Zu Beginn (Ende der 70er Jahre) programmierten wir ein paar Zeilen "Basic" führten die Operation mit "Print" aus, das Ergebnis - der Programmierung und der Operation - war solange präsent, wie der IBM-Computer angeschaltet war). Grundsätzlich waren auch Radio (ohne Bildschirm) und TV-Inhalte von der Flüchtigkeit betroffen. Technische Erfindungen versuchten dieses Manko auszugleichen. Zunächst gab es die Möglichkeit, per Audio-Cassette Töne, dann seit Ende der 70er Jahre mit der Massenverbreitung - auch per Videokassette bewegte Bilder samt Ton zu speichern. Auch die Nerds in den Computerkursen bekamen im Jahr 1980 "die Lösung" präsentiert: die Datasette.

 

Zu Beginn der 80er Jahre wurde das Flüchtigkeits- und Speicherproblem dann durch Floppy- und Harddisks gelöst. Die anfangs geringen Speicherkapazitäten sollten eine radikale Evolution erleben, in deren Folge die Kapazitäten immer weiter anstiegen (Im Prinzip hielt die Speicherexplosion Schritt mit dem Mooresche Gesetz der gesetzmäßigen Komplexitätszunahme integrierter Schaltkreis ). Als die Computer jedoch schon bald vernetzt wurden, stellte sich das Problem erneut. Im primitiven Email-Zeitalter konnte das Problem noch nicht als solches deutlich werden (Im Zweifel druckte man die Email aus). In der multimedialen Hypertext-Umgebung des World-Wide-Web ergibt sich nun jedoch aus der Größe der Dokumente und der Vielzahl der integrierten Objekte ein neuartiges Problem: die Sicherung einer wie auch immer original zu nennenden Kopie einer Hypertext-Seite. Verbunden mit der Mentalität des Surfens ergibt sich als Charakteristikum eine neue Qualität der Flüchtigkeit, die sich jenseits der technischen Möglichkeiten als Art und Weise des Umgang mit dem Medium herausgestellt hat. Tatsächlich hat kein Schüler und keine Schülerin auch nur einmal nach der Sicherungsmöglichkeit eines gefundenen Inhalts gefragt: Die Flüchtigkeit  wird umhinterfragt akzeptiert. Der fehlende Netzwerkdrucker wurde jedoch auch von den Schülern thematisiert. Ob aber jede Hypertext-Seite, die sich oft als ein mehrere Seiten umfassendes Druckdokument herausstellt, ausgedruckt werden sollte, ist schon aus ökologischen Gründen des Papierverbrauchs zu hinterfragen und sollte und kann in den meisten Fällen vermieden werden. Dann aber - und das muss als Kulturtechnik vermittelt werden - gehört das Aushalten von Texten, sprich: die Rezeption am Bildschirm, zu den unausweichlichen Lerninhalten der Internetnutzung.

 

Die Konsequenz, die aus der spezifischen Vorteils- und Problemlage von Hypertext und Hypermedia im Lehr-Lernprozess zu ziehen ist, hat Wimmer zusammengefasst:

 

 

 

Ich übersetze die Konsequenz von Wimmer für mich wie folgt: Die Navigations- und Orientierungshilfen werden aus einer Mischung von Hardware- und Softwarekomponenten einerseits und deren Beherrschung durch die Nutzer andererseits bestehen müssen.

 

Schlüsselt man wie Fasching das Medium als Medienverbund nach seinen Diensten oder Werkzeugen auf und definiert man so den gewünschten Zugriff, dann wird sichtbar, dass bei der Beschäftigung mit dem neuen Medium hier eher ein altbekanntes Problem, das des Zurechtfindens in unüberschaubaren Datenbeständen, in den Vordergrund tritt. Die Informationsmenge, die nicht-hierarchisch und nicht-linear angeordnet im Cyberspace wartet, ist didaktisch völlig umaufbereitet, neben qualitativ Wertvollem findet sich blanker Unsinn, Müll, Propaganda und Lüge; diese Materiallage definiere ich als das Typische des Internet. [Schade, dass ich als Konsequenz nicht das Prinzip des WIKIs erfunden habe ;-)].

 

Die Beschäftigung mit und die Beherrschung von den im Netzt zur Verfügung gestellten Navigationshilfen ist das Thema der didaktischen Aufbereitung, die Implementierung undIntegration dieser Hilfen in den Netz-Unterricht schließlich die Schlüsselqualifikation auf dem Weg zu einer "informationellen Kultur" (Castelli). Das Problem der Hypertexte und ihrer Ver-Linkung, das Problem der Flüchtigkeit der Bildschirme und die mangelnde Speicherbereitschaft der Anwender kennzeichnen relevante Stolpersteine auf dem Weg zur Herausbildung dieser Kultur. Es braucht eine hohe Frustrationstoleranz, am Bildschirm zu suchen, zu selektieren, zu rezipieren; diese muss gelehrt werden, um das Verlorengehen im Hyperspace zu verhindern.

 

Und heute? "Mündigkeit unter den Bedingungen der Digitalisierung ist also gar nichts Neues, gar eine eigene Kompetenz sui generis, sondern das, was sie schon immer war: das Vermögen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und dabei weder Heils- noch Verfallsgeschichten auf den Leim zu gehen" (Patrick Baum, Netze und Netzwerke in Ethik & Unterricht 1/18). Vielleicht auch die Erzählung von der Vermeidung der Unlust, sich mit der Digitalisierung auseinanderzusetzen: Mehr Ratlosigkeit wagen!