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Einblicke in Verzögerungsdiskurse - Schlaglicht 1

Oder auch: Die Gutenberggalaxis schlägt zurück. Und demnächst in Ihrem Kino: Die Rückkehr der Gutenbergkrieger oder haben Sie schon einmal nach Selbstentmächtigungsfatalismus gegoogelt? (Ich muss das Suchen hier mit Absicht "Googeln" nennen).

 

1. Der Ausgangspunkt: Ein Tweet des deutschen Schulportals

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Text von 2019 bezieht sich auf die Wübben-Stiftung. Der Text soll Anhaltspunkte liefern, wie man "Technikskepsis überwinden" kann. Mit den 50 Prozent Skeptikern bestätigt die Studie im Prinzip die zeitgleichen Ergebnisse von Eickelmann et al., die 2019 veröffentlicht wurden: Es gibt 50 Prozent "Nie-Nutzer" von digitalen Medien unter der Lehrerschaft der deutschen, genauer nordrhein-westfälischer Schulen.

 

(Links dazu finden sich unten im Verzeichnis).

2. Katalysatoren: "1984" und "Der Circle" von 2014

 

Was man nicht tun darf: Menschen ihre Sozialisation vorwerfen. Wer mit dem Roman 1984 sozialisiert wurde, der fand 2014 vermutlich einfach durch die biografische Komplexität auch den Roman The Circle im Buchhandel. Der Roman von Dave Eggers, der mindestens ein Unternehmen der "Big Five" (Google) recht frontal angreift, liefert gute heuristische Dienste, wenn es um die Verwertung von Daten als Konsequenz von Googles Kostenlos-Ökonomie geht. Entlang einer Auseinandersetzung der skizzierten Praxis im Unternehmen Circle lässt sich sicher auch eine Ethik für die Infosphäre (Floridi) entwickeln. Darüber hinaus zeigt Eggers wie der Transparenz-Gedanke pervertiert werden kann, wenn alles Private politisch wird, wenn der permanente Video-Stream jedes einzelnen ins Netz zum Normalfall wird. Wie so ein Populismus als Gegenbewegung zur beobachteten Digitalisierung (an machen Stellen besser: Elektronifizierung von digital vorliegenden Daten) funktionieren kann, zeigen die folgenden Passagen aus dem Circle

 

 

"'Tja, jeder Bürger muss Steuern zahlen, nicht wahr? Wie viele Menschen machen das inzwischen online? Im vergangenen Jahr etwa 80 Prozent. Wir könnten aufhören, Einzeldienstleistungen anzubieten, die sich teilweise überlappen, und alle in ein großen vereinheitlichtes System packen. Man zahlt über den Circle-Account Steuern, registriert sich als Wähler, bezahlt seinen Strafzettel wegen Falschparken, man macht einfach alles damit. Ich meinte, wir würden jedem User Hunderte Stunden lästiger Arbeit ersparen, und insgesamt würde der Staat Milliarden sparen' [...sagte Mae].

'Washington versucht gerade mehr denn je, Geld zu sparen', sagte er [Stenton, M.S.], klang nun aber noch herablassender als zuvor. 'Die haben ganz sicher nicht vor, riesige neue Verwaltungsapparate aus dem Nichts aufzubauen. Derzeit kostet die Präsidentschaftswahl den Staat etwa zwei Milliarden Dollar, und das alle vier Jahre. Nur um die Stimmen dieser einen Wahl an diesem einen Tag auszuzählen. Rechnet man noch die einzelstaatlichen und kommunalen Wahlen dazu, reden wir hier über Hunderte von Milliarden unnötiger Kosten, die jedes Jahr anfallen, bloß um abgegebenen Stimmen auszuzählen [...]'.

[Mae:] 'Und wenn es gesetzlich vorgeschrieben ist, einen TruYou-Account zu haben, um Steuern zu zahlen oder irgendwelche behördlichen Leistungen zu beziehen' sagte sie, 'dann sind wir ganz dicht davor, 100 Prozent aller Bürger zu haben. Und dann können wir jedem jederzeit auf den Zahn fühlen. Eine Kleinstadt möchte, dass ihre Einwohner über eine städtische Verordnung abstimmen. TrueYou kennt alle Useradressen und sorgt dafür, dass nur Bewohner dieser Stadt wählen können. Und wenn sie wählen, sind die Ergebnisse Minuten später publik [...]'.

Gleich nach dem Meeting war die besorgte Frage aufgekommen, ob ein Privatunternehmen einen dermaßen öffentlichen Akt wie politische Wahlen übernehmen sollte. Aber die Logik des Ganzen, die damit verbundenen Einsparungen, waren unschlagbare Argumente. Was, wenn die Schule zweihundert Milliarden hätten? Was, wenn das Gesundheitssystem zweihundert Milliarden hätte. Alle möglichen Missstände des Landes könnten mit derlei Einsparungen in Angriff genommen oder gelöst werden - Einsparungen nicht bloß´alle vier Jahre, sondern in ähnlicher Höhe jedes Jahr. Alle kostspieligen Wahlen abgeschafft und durch nahezu kostenfreie ersetzt, die blitzschnell durchführbar waren. Das war das Versprechen des Circle."

 

Dave Eggers (2015, 10. Aufl.): Der Circle, S. 442-445

 

 

Das Geschäftsmodell des Circle beruht ursprünglich auf Freiwilligkeit. Im hier zitierten Teil wird die Perspektive eine Zwanges aufgemacht. Von dort an ist es nicht mehr weit bis zur Dystopie von 1984. Ein Unterschied bleibt jedoch: Während in 1984 der "Big Brother" durch den Staat repräsentiert wird, ist der "Circle" ein Unternehmen, das zum "großen Bruder" mutiert ist. Nimmt man diese Perspektive ein, dann erscheint das Netz und mit ihm die sozialen Medien insgesamt als die große Selbstentmächtigungsmaschine, die ständig von Individuen gefüllt wird, die dem Selbstentmächtigungsfatalismus anheim gefallen sind. Welchem Mantra folgen diese Selbstentmächtigungswesen in den Vorstellungen der Gralshüter der Daten? In deren Ohren hören sich die Fatalisten wohl so an: "Ich bin durch die Digitalisierung und durch den Gebrauch vernetzter Geräte, insbesondere durch mein Smartphone, in Netz der Datenspinnen (-kraken) geraten und dort gefangen. Nun macht es auch nichts Weiteres aus, wenn ich weitere Details meines privaten Daseins in das Netz poste".

 

Sind diejenigen, die diesen Fatalismus auszumachen glauben, in Bildungskontexten unterwegs, dann leben diese Akteure in einer Art Widerstand: Sie selbst bleiben allen digitalen Medien, v.a. den sozialen Medien, fern und versuchen durch gut gemeinte Strategien die ihnen anvertrauten Schüler*innen vor der Selbstentmächtigung zu schützen: "Seht her, ich kann mich dem Sog der sozialen Medien widersetzen - ihr könnt das auch!" Das ist ganz einfach der Versuch durch Verbot und Entsagung Medienkompetenz zu unterrichten. Dass dieser Ansatz den Verfechtern jedoch anschließend auf die Füße fällt, ist offensichtlich: Medienkompetenz kann nur erlernt (und im gewissen Sinne unterrichtet werden), indem (junge) Menschen sich in Medien orientieren, Medien produzieren, Medien verbreiten und die Reaktionen testen. Der Selbstentmächtigungsfatalismus ist die große Erzählung der Alu-Hut-Fraktionen im Lande. Googelt man den Begriff, findet man schnell auch die Seiten von diagnose:funk und den Verein Bündnis für humane Bildung.

 

 

3. Der Doppelcharakter des Widerstandes und die Methode Lankau, das Beispiel Calliope mini

 

Der Widerstand richtet sich gegen zwei Entwicklungen: Die erste Stoßrichtung wendet sich gegen die neuen unsichtbaren Strahlen, gegen die Mikrowellenstrahlung, mit der wir in 5G-Qualität endgültig flächendeckend verstrahlt werden. Die zweite Stoßrichtung der Bewegung geht gegen die digitalen Geräte, die den Unterricht zu de-humanisieren drohen. Ich habe an anderer Stelle schon aufgeschrieben, wie genau dieser Widerstand auf unseren Emotionen aufsetzt und habe dabei das Instrumentarium verwendet, das Philip Hübl in seinem Buch "Die aufgeregte Gesellschaft" jüngst vorgestellt hat.

 

Zu dieser zweiten Stoßrichtung gesellt sich - häufig ausgehend von den idealistischen Ideen der "freien Software"-Bewegung - die Warnung vor der Weltherrschaft der "amerikanischen Digital-Monopole". Zitiert werden die Erfinder und Jünger des Silicon Valleys, die schon immer den "programmierten Menschen" planten. Das wird dann konkret Bill Gates unterstellt. Die zweite Stoßrichtung dieses Widerstandes findet seit 2017 leider sehr leicht Anschluss in den Lehrerzimmer der Republik, weil sie den Anti-Amerikanismus - ohne ihn zu nennen - über den aktuellen Präsidenten der USA entfachen kann. So rücken alle ein Stück zusammen: Es gilt den deutschen Bildungshumanismus gegen den Digitalimperialismus zu verteidigen.

 

Herr Lankau zieht mit diesen Thesen durch das Land: Früher war alles besser (als die Computer noch nicht vernetzt waren) und nur freie Software ist gute Software. Er überführt das schließlich in Google und Apple kaufen sich in die deutschen Schulen ein" oder durch die Erkenntnis der Anderen in "Wie Apple, Google und Co. ins Klassenzimmer drängen". In dem hier unten zitierten Beitrag funktioniert die Methode so: Google ist klammheimlicher Unterstützer der Calliope-Bewegung, die mit den Mini-Platinen Grund- und Sekundar-Schüler*innen zum Programmieren führt. In dem Vortrag bezieht er sich auf den Deutschlandfunk, der das aufgedeckt hat. Tatsächlich wird einfach die Gegenrede weggelassen und eine einseitige Darstellung aus dem Interview übernommen. Der Deutschlandfunk macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Positionen der Interviewten nicht mit seinen übereinstimmt. Sehen Sie selbst:

 

 

Quelle: Ralf Lankau: Über die sogenannte digitale Bildung - und den lernenden Menschen, in: https://youtu.be/7_i81a-UdQo?t=533

Zum Calliope ab etwa Minute 10:25!

 

Was tatsächlich im Deutschlandfunk-Interview passierte (lesen Sie unten selbst): Loick* muss sich verteidigen für die eingeführten Innovationen, schließlich steht der Vorwurf von Deep lobbying im Raum. Die Interviewerin (Pfister) will nach der hier unten links zitierten Passage schon insistieren "Also Google sammelt keine [Daten] ...", da prescht der Herr Scheppler dazwischen und führt dann aus: "Natürlich wirft niemand vor, dass Google direkt dann Einfluss nimmt, sondern ...". Vielmehr gehe es darum, dass solche Initiativen auf die "Mentalität" und die "Demokratie" Einfluss nähmen und will dann zeigen, wie es demokratisch betrachtet eigentlich laufen müsste: Dass in einem Bundesland jemand die Idee hat, dass Calliope eigentlich eine gute Sache sei und dass man anfange das zu diskutieren und so weiter. Weltfremder geht es nicht mehr. Tatsächlich liegt nämlich keine "demokratische Schieflage" vor, sondern eine marktwirtschaftliche. Tatsächlich gibt es ja große monopolartige Unternehmen auf der Welt, die sich durch das deutsche Kartellrecht nicht bearbeiten lassen. Und leider drängen in eher weniger regulierten Marktwirtschaften Unternehmen zur Monopolbildung. Und das ist durchaus ein Problem. Was hier aber tatsächlich gespielt wird, ist, wieder eine Teergrube* zu öffnen, die Digitalität verzögern soll. Scheppler räumt gönnerhaft ein, dass man "Programmieren im Unterricht irgendwo einbinden soll". Leider wird auch dieser Verzögerungsdiskurs wieder von einem GEW-Funktionär geführt. Für mich schon überraschend, dass von Scheppler nicht der Selbstentmächtigungsfatalismus-Vorwuf vor dem unterstellten Hintergrund des Deep lobbying fällt. 

 

*Maxim Loick, Mitinitiator von Calliope in Berlin, und René Scheppler von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Hessen.


 

 

Zurück zu der Methode, die hier dargestellt wird: Es geht darum zu verunsichern und zu verlangsamen. Verunsichert werden sollen Lehrer*innen, die zwar irgendwie den nächsten Schritt gehen möchten, aber aufgrund vermeintlichen Lobbyings (alternativ gerne "Datenschutz"), sich nicht trauen. (Leider funktioniert so auch die Strategie des GEW-Artikel, der am Ende des Jahres 2019 Kollegen in Potsdam angriff, vgl. dazu Krommer: Digitaler Lobbyismus). Verlangsamt werden soll der Prozess der Digitalisierung, weil durch die Verlangsamung meist Pfründe der Bildungsbürger gesichert werden, so z.B. der Vorsprung, den der eigene Nachwuchs vor allen anderen hat. Lankau bezieht sich allein auf Scheppler, die Gegendarstellung kommt nicht vor, der Deutschlandfunk wird als Quelle genannt, die für Lankau parat steht. Tatsächlich schreibt der Deutschlandfunk: "Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen".

 

Die Selbstwahrnehmung der Verlangsamer sieht allerdings vor, dass sie die Amerikanisierung Deutschlands, bzw. des deutschen Bildungssystem noch zu verhindern versuchen. Dabei grenzen die Initiativen der Akteure alle an Verschwörungstheorien, die vor der Verstrahlung und der Verblödung durch Technik warnen. Die deutschen Schulen sollen also vor dem "amerikanischen Digital-Monopolen" bewahrt werden. Der Begriff wird mehrfach im oben zitierten Vortrag wiederholt. Damit zeigt sich letztlich, dass der Selbstentmächtigungsfatalismus eine sehr spezielle deutsche Widerstands-Fantasie gegen die ausgerufene Silicon-Valley-Übermacht darstellt. Eine ehemals ehrenwerte freie Software-Bewegung hat sich hier in der Niederlage gegen die ökonomische Vormacht der großen Konzerne eine letztlich gefährliche Verschwörung zurechtgelegt. Im Beitrag oben erkennt man noch die Herkunft, wenn von Googles und Apples geschlossenen Systemen gesprochen wird und Apple "alle Daten in Cupertino speichern" möchte. Verschwörungstheoretiker erkennt man sehr häufig an dem Aufruf, dass man endlich aufwachen, der Wirklichkeit ins Angesicht schauen müsse (siehe dazu noch einmal oben BÜNDNIS FÜR HUMANE BILDUNG: "aufwach(s)en mit digitalen Medien"). Diesen Widerständlern ist seit 2017 selbstverständlich der neue Anti-Amerikanismus, der Anti-Amerikanismus aufgrund des aktuellen Präsidenten, entgegen gekommen. Er konnte leicht instrumentalisiert werden.

 

Das Ironische (und vielleicht auch dialektische) an der Geschichte ist das Folgende (und damit komme ich auch wieder auf die Dystopie des Circle zurück): Die Verzögerungsdiskurse des Herrn Lankau u.a., in denen vor dem personalized Learning gewarnt wird, führen dazu, dass sich das deutsche Bildungssystem (Schule insbesondere) viel zu langsam bewegt und erneuert. Corona-Krise hin, Corona-Krise her. Die schnelle Erneuerung (und das wäre wiederum viel mehr als Digitalität) könnte zu einer humanen persönlichen kulturellen Bildung führen, in der das Digitale anwesend, selbstverständlich und nicht mehr umkämpft wäre. Die Verzögerung des Erneuerungsprozesses wird jedoch dazu führen, dass ungeduldige Bildungsökonomen den Ministerien zum Zeitpunkt X, sagen wir mal 2024, empfehlen werden mit personalized Learning der Digitalisierung (nicht einer Kultur der Digitalität) zum Durchbruch zu verhelfen. Die Bildungsökonomen werden dabei den Lehrer*innen-Mangel an vielen Schulformen auf ihrer Seite haben.

 

 

Abbild- und Literaturverzeichnis: