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"Als ob ..."

1.    Einleitung

 

Als ich die Kommentare zum „Bildungsnotstands“-Artikel in der FAZ vom 1.7.22 las, „Bildungstrend 2021. Schlechtere Leistungen in Deutsch und Mathematik", von Heike Schmoll, dachte ich, „es gibt wohl Menschen, die bezogen auf das Primar- und Sekundarschulsystem Vorstellungen haben, als ob die Schüler:innen für die Schule / das Schulsystem existierten und nicht umgekehrt. Kaum hatte ich den Gedanken gedacht, fielen mir mehrere Gesprächsfetzen der letzten Wochen ein, die mich zu ähnlichen Überlegungen geführt hatten. So hatte ich einmal beim Bericht eines Deutsch-Lehrers gedacht, „🤔, hört sich so an, als wäre der Unterricht darauf ausgerichtet, als ob die Schüler:innen noch Bücher lesen würden“, „Bücher lesen“ i.S. von sowohl der im Unterricht behandelten Lektüre als auch als Freizeitlektüre. In mir kam erneut der Verdacht auf, dass da ein autopoetisches System namens Bildungssystem existiert, das „um sich selbst kreist“, dabei die zunächst unverdächtige Idee der Selbstreproduktion verfolgt, und doch mit allen Vorhaben scheitert: sich zu reproduzieren, sich zu reformieren, aus Kindern, die zu Schüler:innen werden, Erwachsene nach ihren Vorstellungen zu formen.

Nichts von dem, das mir hier eingefallen ist, ist originell oder neu. Manche haben es als Systemproblem schon vor Jahrhunderten beschrieben, andere als Generationenproblem („Wie soll eine veraltete Lehrer:innen-Generation Schüler:innen zeitgemäßen Unterricht anbieten?“) und wiederum andere als zyklisches und wiederkehrendes Problem in Phasen raschen gesellschaftlichen Wandels, der – schon in der Vergangenheit – auf Phasen technologischer Umbrüche, kriegerischer oder kriegerischer Verwerfungen folgte. Nachdem ich unten kurz über FAZ-Artikel und die Leserbriefschreiber (!) berichtet haben werde, will ich auf das „Als-Ob“ eingehen. Dem liegt die phänomenologische Annahme zugrunde, dass wir sehr viele „Als-ob“-Beschreibungen den zwei oben gedachten hinzufügen können. Möglicherweise haben wir dann einen nochmals geschärften Blick auf gegenwärtige Bildungsanstrengungen, die, weil sie glaubenssatzartig am „als ob“ hängen, ins Leere laufen.

Abbildung 1 - via Pixabay

 2a. Der FAZ-Artikel und ausgewählte Kommentare

 

Der Artikel referiert zunächst die zusammenfassende Aussage der IQB-Studie (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Berlin): „Schulschließungen und pandemiebedingte Einschränkungen im schulischen Lernen haben die Grundschüler in ihrer sozialen Entwicklung und in ihrem Lernerfolg erheblich zurückgeworfen. Ihre Leistungen in Deutsch und Mathematik sind in den Jahren 2016 bis 2021 erheblich schlechter geworden. Das geht aus der deutschlandweiten Vorauswertung des Bildungstrends 2021 des Instituts für die Qualität in der Bildung (IQB) hervor, der an diesem Freitag veröffentlicht wurde. Die Länderauswertungen folgen im Oktober“. (Schmoll, 1.7.2022). Schmolls Blicks richtet sich dann auf die weiterführenden Schulen, denen diese Minderleister:innen zugemutet werden und wieder geht es um die Orthografie: „Bei der Orthographie erreicht weniger als die Hälfte der Schüler den Regelstandard und fast ein Drittel verfehlt den Mindeststandard. Das bedeutet, dass nur eine kleine Minderheit in der Lage ist, in der weiterführenden Schule regelkonform zu schreiben.

Alarmierend ist, dass deutlich mehr Schüler die Mindeststandards beim Lesen, Zuhören und in der Orthographie verfehlen als das noch 2016 der Fall war. In allen getesteten Kompetenzbereichen ist die größte negative Entwicklung zwischen 2016 und 2021 zu verzeichnen, auch wenn sich schon vorher negative Trends andeuteten“. Klar, dass sich der Blick dann erneut auf den „engen Zusammenhang“ von Elternhaus und schulischer Leistung richtet; klar, dass der Zusammenhang nicht nur signifikant ist, sondern klar ist, dass dieser während der Pandemie größer wurde. Dieser Zusammenhang wir in Deutschland nun gebetsmühlenartig seit 40 bis 50 Jahren wiederholt. Und? Nichts passiert! Anschließend wird der Blick selbstverständlich auch auf die vergrößerte Migrationskohorte geworfen. Hier wird lediglich deutlich, dass zwar die stärksten Kompetenzrückgänge bei der ersten Generation von Einwanderern zu bemerken sind, generell aber gelte, dass „die Leistungsrückgänge […] sich nicht allein mit einem höheren Anteil von Schülern mit Migrationsgeschichte begründen [lasse]“. (Schmoll, 1.7. 2022. P.S. In einem Überarbeitungsschritt wurden die Zwischenüberschriften "Ein desaströses Ergebnis" und „Die Grundschulen sind das Problem" herausgenommen, ich habe die Screenshots vom Vormittag des 1.7. unten in Abbildung 2 eingefügt).

Helge Peters, einer der ersten Kommentatoren, schreibt wissend: „Lesen und Schreiben hängen seit langem mit der Ganzheits-Methode zusammen. Die Erfahrungen damit sind negativ. Mathematik beginnt mit dem Rechnen und da hapert es schon angesichts der ‚Permanentbegleitung‘ fast alle Schüler*innen durch das Handy (mit Rechner)“ (Schmoll, 1.7. 2022).

 

Abbildung 2 - Screenshots Faz-Net, 1. Juli 2022 morgens

Abbildung 3 - Der stolze Vater der Studie inklusive Alarmismus und inklusive Anklänge an Verschwörungsdenken ("Keiner will es hören"),

 

2c. Kritische Positionen

 

Eine Auseinandersetzung mit der Stellungnahme des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz zur IQB-Studie aus der Perspektive der Fachdidaktik Mathematik kann man hier bei Jens Lindström nachlesen:

 https://jenslindstroem.de/2022/07/06/kommentar-die-grundschullehrkraefte-sind-nicht-schuld-am-leistungsabsturz/

Abbildung 4 - Die erste Resonanz im Twitterlehrerzimmer

 3.  Exkurs: Der Versuch einer Als-Ob-Philosophie

 

Für die Wikipedia hat ein Autor das 900-seitige Werk von Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob, in wenige Sätze zusammengekürzt. Der Neukantianer Vaihinger versuchte darzulegen, dass das Ziel der Erkenntnis letztlich in der Bewältigung der Außenwelt durch das Subjekt bestehe. „Ausgangsfrage seiner Philosophie des Als-Ob ist, wie sich Richtiges (erfolgreiches Handeln, Problemlösen) mit falschen Annahmen erreichen lässt. Erkennen heißt bei Vaihinger, Unbekanntes mit Bekanntem zu vergleichen; […] Atome, ebenso wie Gott und Seele erklärt Vaihinger als nützliche Fiktionen. Sie erlangen Bedeutung, »als ob« sie wahr seien, auch wenn sie der Denkkonstruktion bewusst widersprechen. Nützliche Fiktionen erhalten ihre Legitimation durch den lebenspraktischen Zweck. Auf dem Umweg des Als-ob erreicht man „das Gegebene“ so lange, bis durch ein neues Modell von Wirklichkeit ein kürzerer Weg gefunden wird. Dies ist jedoch ein unabschließbarer Prozess. In dieser Hinsicht ergibt sich eine Nähe oder Vergleichbarkeit zum zeitgleich entstehenden amerikanischen Pragmatismus.“ (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Vaihinger#“Philosophie_des_Als-Ob“ und https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Philosophie_des_Als_Ob).

 

Die Formulierungen erinnern ein wenig an die späteren Ideen eines bestehendes Paradigmas, in dessen Rahmen solange Lösungen gefunden werden, bis die Beobachtungen immer weniger erklärbar werden, bzw. bis sie in Konflikt mit denen das Paradigma begründenden Thesen geraten. 

4.    Mein Als-Ob-Verständnis

 

Waren es bei Vaihinger nützliche Fiktionen, die, als ob sie wahr seien, dem Subjekt bei der Bewältigung der Wirklichkeit helfen, beschreibe ich lediglich den anderen Fall. (Ich setze mich folglich nicht mit Hans Vaihinger auseinander). Dieser andere Fall behandelt jene überdauernden Fiktionen, an die noch geglaubt wird, die aber von der Logik der Gegenwart überholt wurden und dem Subjekt (nur noch) bei der Bewältigung seiner Wirklichkeit helfen. Gleichzeitig wird die Gesamtsumme aller Bewältigungsanstrengungen negativ, da die an die Folgegeneration weitergereichten Kompetenzen nicht mehr zu den Fragen der Gegenwart passen. Um auf Schule zu sprechen zu kommen: Auswendiglernen (jenseits von Vokabeln der modernen Fremdsprachen), Abschreiben, Prüfungen nach dem Muster von Kopf-Stift-Heft-keine-Hilfsmittel usw. Also, nach meiner Vorstellung existieren alte Paradigmen und Erfahrungen (über die Welt), nach denen (noch immer) eifrig gehandelt wird, als ob sie wahr wären. Mir geht es hier jedoch nicht um Erkenntnistheorie, sondern um soziologische Beschreibungen. Wie ich schon in der Einleitung dargestellt habe, „stolpere“ ich, im Sinne von „mich irritieren die beschreibende Aussagen X, Y, Z … im System B,“ da sie sich seltsam inkonsequent und manchmal widersprüchlich anhören“. Häufig frage ich mich dann: „Warum hält der Agens von System B an seinen Glaubenssatz fest, statt sich mit aller Kraft auf die erlebte Wirklichkeit einzulassen?“ „Warum hält er an der Fiktion V fest, wenn doch offensichtlich ist, dass Fiktion V veraltet ist und Fiktion W eine bessere Bewältigung der Gegenwart verspricht? Warum arrangiert er sich weiter mit der Als-Ob-Gewissheit, ja, das Leben im Als-Ob führt zu einem Leben in einer „Als-Ob-Tatsachenwelt“, die man mit Max Weber auch als Leben in einem „Gehäuse der Hörigkeit“ beschreiben könnte. Möglicherweise geht es um nichts Geringeres als um die Einrichtung des richtigen Lebens im falschen. Das „falsche Leben“ ist möglicherweise aber nichts anderes als das angepasste Leben, das sich den Erfordernissen der Zeit stellt, mit Baricco könnte man vielleicht sagen, der Erfahrung 2.0, des veränderten gesellschaftlichen Modus (dazu jedoch an anderer Stelle mehr, vgl. Baricco 2019). Wenn man versucht, sich in die Sichtweise der anderen einzudenken, hören wir uns vielleicht das Folgende denken: Sicher, man will halt nicht alle (falschen) Moden mitmachen, Moden kommen und gehen. Weiß man, ob die aktuelle bleibt, ob sie wirklich so grundsätzlich alles umstülpt, wie es von deren Jüngern behauptet wird? Apropos Jünger: Treten sie nicht auch wie Vertreter:innen einer neuen Religion auf? Angetrieben vom religiösen Eifer einer kalifornischen Elite, die ihre Kinder (noch immer) auf Waldorf- oder echte Reformschulen ohne digitale Endgeräte schickt?

Abbildung 5 - via Pixabay

So viel zu möglichen Gedanken, Glaubenssätzen und Einrichtungsgegenständen im „Gehäuse der Hörigkeit“ jener, die im Als-Ob vergangener Tage leben. Kehren wir nun zurück zum System Schule und den Anstrengungen, Unterricht „auf Höhe der Zeit“, um zeitgemäßen Unterricht in einer Welt des raschen Wandels zu realisieren. Wir leben nun in einer Zeit des „Paradigmenwechsels“, in der das Leitmedium bereits gewechselt hat, in einer Welt, die sich verdoppelt hat: Zur Welt, kodiert als Zeichen, ist eine Welt der digitalen Zeichen hinzugetreten. Welt und Extra-Welt (die digitale) haben sich vereinigt und existieren nun beide ineinander verschränkt fort, schreibt Barrico (vgl. Baricco 2019). Letztlich wird hier der Versuch verhandelt, (wieder und immer wieder) an der Lebenswirklichkeit der Schüler:innen anzuschließen, bzw. irgendeinen gelingenden Zugang zu der aktuellen Schüler:innen-Generation zu finden. Am Anfang mag, um zunächst einen Anfang zu finden, der schon oben bemühte Generationenbruch zwischen den älter werdenden Lehrerkollegien und der aktuellen Schüler:innen-Generation, stehen (Spoiler: Das „Generationenproblem“ ist aber nicht das wesentliche). Wer in dieser Konsequenz argumentiert, bringt häufig vor, dass man mit den Schüler:innen der Gegenwart nicht mehr die herausfordernden Bildungsziele erreichen könne, die noch vor 15 oder 25 Jahren zu erreichen möglich waren. Wird das Thema dann auf die sogenannte Aufmerksamkeitsspanne der Schüler:innen (von heute) gelenkt, wird von den „Wissenden“, seien es Expert:innen  oder interessierte Beobachter:innen, Kohärenzen oder sogar Kausalitäten behauptet, die zumeist aus falschen Vorstellungen generiert werden und sowohl sachlich wie fachlich falsch sind. "Nicht-mehr-lesen" bedeutet aus der Perspektive des deutschen Gymnasiums, dass die Schüler:innen keine Literatur mehr lesen. Sie lesen nichts mehr neben dem Schulpensum und sie lesen das Schulpensum in Zusammenfassungen, heißt es dann. Die Kausalität liege offen zutage: Das „Handy“ sei schuld. Oder oben aus dem Leserbrief von Peters: „Bei allen (!!!) Schüler*innen ist die ständige Begleitung durch das Handy der Ausgangspunkt für die beklagten Schwächen, egal ob oder mit Migrationshintergrund“ (Die Ausrufezeichen im Zitat stammen vom Leserbriefschreiber).

Abbildung 6 - via Pixabay

Für mich galt immer, dass doch die spannende Frage vor dem Hintergrund dieser wertenden Diagnosen die Frage nach der Reaktion des Bildungssystems sei. Wie reagieren die Akteure und wie reagiert das System auf die akzeptierte phänomenologische Beschreibung, dass sich die Aufmerksamkeitsspanne verkürzt. Nach wie vor lassen sich aus meiner Sicht die unterschiedlichen Reaktionsweisen klassisch in zwei Formen unterscheiden: Es gibt eine progressive, die sucht den Anschluss an das Leben und die Jugend und entdeckt in den neuen Formen der Digitalkultur neue Formen des Schreibens und Lesens. Wie genau so etwas - bezogen auf den Deutschunterricht - aussehen kann, wurde in der Netzkultur, pars pro toto: unter dem Hashtag #twlz, in den letzten Jahren hinreichend ventiliert. Punkt. Mehr habe ich als Fachfremder an der Stelle nicht zu sagen ... obwohl?!, - ich habe mal hier verbloggt, wie sich die Konservativen an der abnehmenden Rechtschreibqualität angehender Lehrer:innen abarbeiten (vgl. Schöngarth 2021). Da sich hier mein Referenzartikel von Schmoll hauptsächlich an den Grundschüler:innen abarbeitet, zitiere ich den Leser Schilk, der meine Als-ob-Irritation von oben, so schön auf den Punkt bringt, indem er allen Grundschülern ein zusätzliches Förderjahr verordnet: „Die Versäumnisse in der Grundschule kann keine weiterführende Schule ausgleichen“. Versteht man meine Irritation? Hier wird von der zweiten Bildungseinrichtung, dem Sekundarschulsystem, der Anspruch junger Menschen, vielleicht etwas pathetisch in der folgenden Form formuliert „Hier bin ich und helft mir bitte, meine Vorfreude auf mein späteres Ich nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern auch zu diversifizieren!“, grundsätzlich zurückgewiesen. Es wird so getan, als ob Versäumnisse der Grundschule niemals aufgeholt werden könnten, es wird so getan, als ob die auf die Primarstufe folgende Sekundarstufe für alle Ewigkeiten unverrückbare, essenzielle Ansprüche an diese stellen dürfte, um dann Unterricht unabhängig vom vorgefundenen Schüler:innen-Material zu exekutieren.

 

Haben Sie als geneigte:r Leser:in gemerkt, dass mit Ihrem „Als-ob“ etwas passiert ist? Erinnern Sie sich an Ihren Sprachgebrauch? Ist es nicht so, dass Sie das Als-ob nicht für Zustände, schon gar nicht für Tatsachen verwendet haben, sondern für Möglichkeitsformen? Das Als-ob hat uns Menschen doch erst das potenzielle Leben in einer zweiten, dritten usw. imaginierten Welt ermöglicht: „Wir tun mal so als ob?“, war nicht nur unser aller Wahlspruch zu Zeiten der Kindheit und Jugend, sondern auch der Ausgangspunkt für Phantastisches, Irreales, für Fiction, ja für Religion und Philosophie. So zu tun „als ob“, ist der erste lebensweltliche Zugang zu Gedankenexperimenten aller Art. Doch was genau ist hier das Problem? Unser kindliches Staunen und Spekulieren über das Als-ob ist in dem oben entwickelten Szenario ist „auf den Kopf gestellt“ oder erstarrt: Im „Gehäuse der Hörigkeit“ ist die Großartigkeit der Fiction zu vermeintlichen Tatsachen der Welt verwandelt: Ich finde dafür nur den das Widersprüchliche verbindenden schiefen Begriff der "Als-ob-Tatsachen". In der Welt der „Als-Ob-Tatsachen“ leben und handeln Menschen so, als ob ihre Tatsache real wäre, also die (einzig) richtige Beschreibung der Welt. Ich dieser Welt verwechselt man Kohärenzen und Kausalitäten, in dieser Welt entwickelt man keine angemessenen Begriffe für weit über die Hardware hinausgehende Phänomene, so benutzt man z.B. für die Supercomputer im Taschenformat schamlos das Kunstwort „Handy“ weiter, obwohl damit alle kulturellen Entwicklungen von 15 Jahren Menschheit einfach ausgeblendet werden. Ich kann hier abkürzen: Selbstverständlich, Sie haben es schon gemerkt, unterstelle ich der Als-Ob-Welt im Gehäuse der Hörigkeit nichts Wenigeres als die bequeme Einrichtung in Platons Höhlenwelt.

5.    Die Liste des Als-Ob

 

Da ich mich nun selbst geoutet habe, werde ich nun im Folgenden absolut schamlos generalisieren und so tun, als könnte man die von mir aufgezählten Phänomene des „Als-ob“ als Grundtendenz im ganzen Bildungssystem, in allen Schulformen inklusive Hochschulen ausmachen. Ich meine also durch ein paar philosophische Übungen (und den Aufstieg aus der Höhle) wahrzunehmen, dass sich in einer nur langsam, sehr langsam ändernden Schulkultur eine Negativ-Kultur des "als ob" eingeschlichen hat. Generalisierung on // Es wird, so postuliere ich, jeden Tag und jeden weiteren Tag unterrichtet und unterrichtet, als ob die Schüler:innen ...

 

  • etwa im Deutschunterricht noch die klassische Literatur und jenseits von Unterricht weitere Literatur läsen,
  • die deutsche Rechtschreibung beherrschten,
  • nur weil sie 200 Jahre via Kreide und Schülertäfelchen, bzw. Stift und Heft Feinmotorik gelernt haben, ausschließlich genau dadurch Feinmotorik erlernen könnten,
  • in Karikaturen und Comics irgendeine Motivation/Spannung fänden,
  • die Aufmerksamkeitsspanne für 45 min fragen-entwickelndes Unterrichtsgespräch ausreichte,
  • ihr Smartphone - und damit ihren Zugang sowohl zur besten Freundin als auch zur Weltkultur - einfach ausmachen könnten,
  • noch immer eine Welt vorfänden, die im wesentlich von linearen, textorientierten (Kommunikations-)-Zeichen dominiert wäre,
  • in dem künstlich zergliederten Fächerkanon Antworten auf die großen Menschheitsfragen fänden,
  • kein Anrecht auf Lernsettings inklusive der 21st Century Skills hätten,
  • die Welt „da draußen“ nicht nur einen Klick weit entfernt wäre,
  • dass „Handy“ nur zum „Daddeln“ nutzen könnten.
  • ...

 

Man merkt sicher: „Als-ob-Unterricht“ ist wie kein Unterricht, oder wie die Didaktiker:innen sagen würden: Unterricht, der an den Lernvoraussetzungen und der Lebenswelt der Schüler:innen vorbeigeht. Hier wird nicht mehr an der Lebenswelt und dem Vorwissen der Schüler:innen angeknüpft, hier wird nicht mehr Bekanntes mit Unbekannten problemorientiert vernetzt, hier wird nicht darauf geachtet, dass die großen Herausforderungen der Menschheit mit den kleinen Ansprüchen der Lernenden zusammengeführt werden, dass also diese auch Inspiration und Kraft für Problemlösungen zunächst im Kleinen aber auch im Großen finden: global denken und lokal handeln. Um in der Schule der Gegenwart nicht nur Zuschauer:innen zu produzieren, sondern vielmehr aus Betroffenen (der Weltumstände) Beteiligte an Lösungen zu machen, braucht es Unterricht, der das nurmehr zynische Als-ob überwindet. Dirk von Gehlen hat dafür einmal eine Kompetenz vorgegeben, da er auch die Gefahr gesehen hat, dass die im Bildungsprozess zu erschließenden Weltprobleme jedem Einzelnen und jeder Einzelnen als übergroße Probleme erscheinen, so dass - der menschlich verständliche Impuls – Resignation bedeutet könnte. Um dies zu vermeiden, benötige es der Überforderungsbewältigungskompetenz (vgl. Gehlen 2018 und Schöngarth 2019). Übersetzen wir es zunächst mit „Global denken und lokal handeln“.

 

Hier nun also die Konsequenzen des Als-Ob-Unterrichts: Die Schüler:innen werden systemisch (nicht: systematisch) ferngehalten von …

 

  • neuen Formen von Literatur und vom Zugang zu diesen im Unterricht (ein Nebenaspekt ist, dass davon ausgegangen wird, als ob Schüler:innen keinen Zugang zum einem Opensource eBook-Reader benötigten, den sie bedienen lernen, dass sie „am Gerät“ lesen, markieren und mehr lernen (vgl. die Problematisierung weiter in Schöngarth 2022, Kapitel 9),
  • konsequenter digitaler Fehlersuche, bzw. digitalen Formen zur fehlerarmen und stilsicheren Schreibweise (Stichwörter DeepL und Rückübersetzung),
  • feinmotorischen Lernen an Tastatur- und Spielekonsolen,
  • aktuellen ästhetischen Ausdrucksformen in Bild- und Videoformaten,
  • Lernarrangements, die konsequenter die Lernenden mit Lernaufgaben u.a.m. in den Blick nehmen,
  • „Handy-Ordnungen“ Schüler:innen zu einem gesünderen Lebensstil führten, obwohl sie eher krank machen (wie, wenn man Fischen oder Pinguinen ihr spezielles Medium wegnehmen würde),
  • Bilderlese- und Videolese-Kompetenz als zentrale aktuelle Basiskulturkompetenz,
  • fachübergreifenden, fächerverbindenden, man sollte mehr und mehr sagen „fächerüberwindenden“ Unterricht,
  • Unterricht, der Bildung für nachhaltige Entwicklung und die Entwicklungsziele in den Mittelpunkt aller Fächer (so lange es sie noch gibt) stellt,
  • der Welt „da draußen“,
  • dem Weltkulturzugangsgerät im Unterricht.

6.  Abschlussüberlegungen

 

Noch einmal zurück zur oben begonnenen Als-Ob-Liste: Sicher ist, die Liste ist nicht vollständig. Sie kann gerne fortgeführt werden. Sollten meine Vermutungen einen Funken Wahrheit enthalten, dann, so glaube ich, ist der Als-ob-Unterricht nichts anderes als das Nicht-Entkommen-Können aus dem selbstgesetzten Gehäuse der Hörigkeit (Aus Platons Höhle, wenn Sie so wollen). Doch wem dient die Hörigkeit, wer oder was hat das Gehäuse mitbestimmt? Meine Antwort: Vermutlich eine ganze Menge zu tun hat das mit dem Großwerden und Leben im Paradigma der Buchkultur. Paradoxerweise gilt: Obwohl das neue Leitmedium, hier in der Hardwarevariante, nun mehrfach, manchmal eben zu 25 Stück im Unterricht vorgehalten wird, werden die Mauern um das alte Paradigma höhergezogen. Das ist Digitalisierung statt Kultur der Digitalität: Man folgt den MUSTERN der Buchkultur und digitalisiert diese. Ich folge hier dem von Wampfler gegebenen Beispiel: Jemand fragt, inwiefern er (oder sie) nun mit den digitalen Werkzeugen im Unterricht Rezepte aufbereiten kann. Er oder sie nennt selbst, dass er oder sie an die Aufbereitung in einem digitalen Buch denkt, in einem eBook, wir stellen uns hier einmal als Beispiel den Bookcreator vor. Wenn die Buchkultur digitalisiert wird, bleibt alles linear und schwarz-weiß, denn es gibt nur Licht und Schatten in Platons Höhle. Man malt es nur bunt an, und folgt dennoch dem alten Bilderverbot und lehrt, dass nur das wahr ist, was man „schwarz-auf-weiß“, bzw. „mit-den-eigenen-Augen“ gesehen hat. Wampfler stellt mit TikTok-Videos dagegen klar: Rezepte sind heute längst digital. Dabei haben diese einen gewissen Formwechsel erlebt: Es gibt sie nicht mehr „schwarz-auf-weiß“ (mit einigen farbigen Fotoabbildungen) wie im Rezeptbuch der 1950er-2000er Jahre, sondern Videoformaten (vgl. Wampfler 2022).

 

Und so geht es weiter, jeden Tag, von Sommerferien zu Sommerferien:  Unterricht in Als-ob-Fiktion des 20. Jahrhunderts. Und die Folgen? Viel zu vielen Schüler:innen geht es dabei schlecht. Sie schaffen es nicht aus eigenem Antrieb heraus, den Kopf über Wasser zu halten, sprich: dem Als-ob-Unterricht eine eigene Narration des Lernens entgegenzustellen, die auf der Höhe der Zeit ist. // Generalisierung off.

 

 

P.S. Sicher sollte an anderer Stelle noch einmal aufgeführt werden, was die heutige Schüler:innen-Generation - bei verkürzter Aufmerksamkeitsspanne - dennoch sehr gut kann und was sie als erste Generation überhaupt für Fähigkeiten entwickelt hat. Und dass auch dieses Können helfen kann, die Menschheitsprobleme kollektiv zu bewältigen (an dieser Stelle werde ich mit Baricco ansetzen).

7. Literatur: