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Theorie des erweiterten Geistes (TEG)

Wie viele Artikel und wie viele Vorworte mögen schon mit dem Satz begonnen haben "Im Jahre 1998 verblüfften Andy Clark und David Chalmers die philosophische Gemeinschaft mit der sog. These des erweiterten Geistes"? Bestimmt sehr viele, obwohl seit der Veröffentlichung erst 21 Jahre vergangen sind. Die VERBLÜFFUNG soll hier im Folgenden GROSS geschrieben werden, weil damit eine didaktische Hoffnung ausgeht: Mit Schülerinnen und Schüler über die TEG "wie von selbst" ins PHILOSOPHIEREN zu kommen. Mein Artikel hier hat die Absicht, einen philosophischen, einen fachwissenschaftlich begründbaren Anker auszuwerfen, so dass eine Position erkennbar wird, mit der man sodann didaktisch ans Werk gehen kann.

Bild von Elisa Riva auf Pixabay

 

 

Was besagt eigentlich die TEG? Sie besagt im Kern, "das kognitive Systeme nicht-biologische Komponenten enthalten können und sich damit über die Grenzen biologischer Organismen hinaus erstrecken können" (Michel 2015c, S. 6). Das ist also der Kern, mit dem Clark und Chalmers 1998 die (philosophische) Öffentlichkeit "verblüfften". Seitdem gelten sie als Rockstars der Fachwissenschaft und irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass Ende des 20. Jahrhunderts in vielen Fachdisziplinen und Genres "Rockstars" geboren wurden, die auf einem "Verblüffungs-Effekt" beruhten, so z.B. in 1999 im Bereich der Cinematografie die Wachowski-Brüder (heute Schwestern) mit The Matrix. Während in Matrix verblüffenderweise die Welt nur in unserem Kopf existiert, erfahren wir von Clark und Chalmers, dass unser Geist womöglich nicht nur in unserem Kopf ist.

 

Was bleibt eigentlich mit einem gewissen zeitlichen Abstand vom Verblüffungseffekt übrig? Ich werde mich, um den Anker auswerfen, im Wesentlichen auf Jan Michel, Uni Münster, beziehen, der mit anderen 2012 eine im deutschen Sprachraum erste Tagung zur TEG durchführte und mit gewissem Abstand 2016 eine kluge Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze zum Thema herausgab: Jan Michel, Kim J. Boström, Michael Pohl (2016) (Hg.): Ist der Geist im Kopf. Beiträge zur These des erweiterten Geistes, Münster, hier im Folgenden: Michel 2016a.

 



 

Um es vorweg zu nehmen: Das Ergebnis wird darin bestehen, dass "mind" nicht im Sinne des "Geistes" in der "Philosophie des Geistes" verwendet wird, sondern im Sinn von Kognition. Interessanterweise steht das auch auf Seite 1 des Aufsatzes von Clark und Chalmers über dem ersten der beiden relevanten Gedankenexperimenten ("Extended cognition"). Im ersten Gedankenexperiment geht es um drei Szenarien einer Person, die Tetris spielt. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass im ersten Szenario offensichtlich lediglich interne kognitive Ressourcen abgerufen werden, im zweiten auch externe und im dritten Szenario, das in die Zukunft verlegt ist, vermittels eines integrierten Chips die Person "nicht zwischen einer internen und einer externen Ressource wählen kann, da bei ihr beides intern bzw. 'im Kopf' ist" (Michel 2016b, S. 65). Für Clark und Chalmers ist damit klar, dass es keine wesentlichen Unterschiede in den Szenarien gibt, somit steht für die Autoren fest, "dass kognitive Prozesse auch externe Komponenten umfassen können" (Michel 2016b, S. 66).

 

Das zweite Gedankenexperiment ist noch bekannter im Kontext der Extended-Mind-Debatte: Es ist das Inga-Otto-Gedankenexperiment, in dem die beiden Namen Inga und Otto für "innen" und "outer" stehen sollen. (Vgl. Michel 2016b, S. 67).

 



 

Die Geschichte ist schnell erzählt: Inga kann sich allein auf ihr Gedächtnis verlassen, um einen gewissen Ort aufzusuchen (siehe oben) und Otto kann das nicht. Otto ist auf ein Notizbuch angewiesen, in dem er sich aufgrund seiner Krankheit Notizen anfertigt. Für uns ist damit klar: das Notizbuch ist extern. Beide Gedankenexperimente verdichten Clark und Chalmers in der Aussage: "the mind extends into the world" (C&C 1998, S. 12).

 

Michel nimmt das zum Ausgangspunkt, die Frage nach dem "Mind" zu stellen: "Aber was ist denn dabei eigentlich mit 'Mind' gemeint?" (Michel 2016b, S. 68). Michel geht von der zunächst üblichen Übersetzung von Mind aus, nämlich vom GEIST. Im Folgenden bezieht er sich auf drei Charakteristika des Geistes: auf den qualitativen, den subjektiven und den intentionalen Charakter des Geistes. (vgl. ebd.). Qualitativ heißt in diesem Zusammenhang, das geistige Erlebnisse „für jemanden immer irgendwie sind“ und subjektiv heißt, dass es jemanden gibt, der z.B. Schmerzen hat. Beim intentionalen Charakter des Geiste müssen wir zwischen intentionalen Gehalte und dem Modus unterscheiden: Die Gehalte informieren, worauf Bezug genommen wird und der Modus gibt Auskunft, ob man der Überzeugung ist oder ein Wunsch oder etwa eine Befürchtung vorliegt (vgl. Michel 2016b, S. 68 ff.; alle Hervorhebungen, auch die folgenden, im Original).

 Vor diesem Hintergrund hat sich Michel noch einmal die beiden Beispiele (Gedankenexperimente) von Clark und Chalmers angeschaut und stellt fest, dass im Tetris-Beispiel alle Charakteristika des Geistes unerheblich sind. Seine Schlussfolgerung lautet: „Es geht also bei diesem Beispiel aus der Extended-Mind-Debatte nicht im üblichen Sinne um Geist. – Aber worum geht es dann? [...] Es geht um mentale Rotation, einen informationsverarbeitenden Prozess, der seit den 1970er Jahren in den Kognitionswissenschaften (insbesondere der Psychologie) untersucht wird. Es geht somit um einen kognitiven Prozess. (ebd., S. 71). Im Inga-Otto-Beispiel verhält es sich zunächst ähnlich, da auch hier die subjektiven und qualitativen Erlebnisse keine Rolle. Anders sieht es mit den intentionalen Zuständen aus. „Das Vorhandensein der Überzeugung (dass das Museum in der 53. Straße liegt) und des Wunsches (es sofort zu besuchen) bietet eine gute Erklärung dafür, dass beide sich gleich auf den Weg zum MoMA machen“ (ebd. S. 73) (gemeint ist immer das "Museum of Modern Art"). 

 

Für Clark und Chalmers Argumentation hält Michel jedoch den Aspekt der Adresssuche für entscheidender: Während Inga ihre Überzeugung einfach aus ihrem (episodischen) Gedächtnis abrufen konnte, liegt die Sache bei Otto anderes: Er wusste schon um seine Gedächtnisprobleme als er den Eintrag im Notizbuch vornahm und daher ist seine Absicht so zu bestimmen: „Er wollte für den Fall vorsorgen, dass er später einmal vergessen (d.h.: nicht mehr wissen bzw. nicht mehr der (episodischen) Überzeugen sein) könnte, dass das MoMa in der 53. Straße ist“. (ebd., S. 74). Der Fall tritt ein und nun ist er wieder der (episodischen) Überzeugung. Liegt ein Unterschied vor, fragt Michel im Folgenden, und gibt diese offensichtliche Antwort: „Dass Inga ohne externe Hilfsmittel auf ihre nicht-episodische Überzeugung zugreifen konnte, zeigt, dass ihre nicht-episodische Überzeugung nur von ihren internen Eigenschaften abhängig war. Dass Otto aber nicht ohne externe Hilfsmittel auf seine nicht-episodische Überzeugung zugreifen konnte, zeigt, dass seine nicht episodische Überzeugung nicht nur von seinen internen Eigenschaften, sondern auch von externen Eigenschaften abhängig war“ (ebd., S. 75). Der Clou besteht laut Michel in dem Wissen Ottos um den „Status seiner Einträge“. Er fügt Einträge in ein externes Notizbuch ein, „das er für eine bestimmte Weise verwendet, nämlich so, wie Inga ihr Gedächtnis. Insofern ist das Notizbuch ein externes (kognitives) Werkzeug, [..., mit Bezug auf Aufsätze von Hurley 1998 und 2010, M.S.] ein Vehikel ist. (vgl. ebd., S. 76). 

 

Für Clark und Chalmers ging und geht es also um kognitive Prozesse, nicht geistige und diese kognitiven Prozesse sollen auch dann als kognitive bewertet werden, wenn sie „externe Komponenten umfassen“ (ebd., S. 77). Dergestalt vorbereitet kann Michel nun auch die Intentionalität angreifen, indem er einfach feststellt, dass es sich nicht um Gehalte als eines Teils des intentionalen Charakter des Geistes handelt, sondern um Vehikel und damit ein Vehikel-Externalismus vorliegt. Clark und Chalmers haben hierbei schon 1998 deutlich gemacht, dass sie bei diesen Kopplungssystemen (Mensch plus Notizbuch, wie bei Otto) von „jederzeit zugänglichen(n), stabile(n) und zuverlässige(n) Kopplungen“ [ausgehen]. Damit will man eine sog. kognitive Inflation vermeiden (Über die Kopplungssysteme und kognitive Inflation weiter bei Lyre 2016, S. 191 ff.) Als „Kandidaten“ für solche Mensch plus X – Kopplungssysteme führt Michel neben Notizbüchern Taschenkalender, Smartphones oder Notebooks an. Hier liegt der Kern für mein didaktisch reduziertes, schülergerechtes Gedankenexperiment „Smartphone im Kopf“. Mit Lyre (2010) kann man jedoch zwischen konventionellen, elektronischen, verkörperlichten und sozial-kognitiven Werkzeugen unterscheiden. (Die Diskussion, die Michel anschließt, dreht sich um den Zusammenhang von externen Vehikel und externen Gehalten, sein Schluss, der nichts offen lässt, lautet: „Da die Information, dass das MoMa in der 53. Straße ist, nur für das kognitive System Otto-plus-Notizbuch relevant ist, hängt diese Information dann vollständig von dem gekoppelten kognitiven System Otto-plus-Notizbuch ab bzw. superveniert darüber. Die Information kann dann nicht zusätzliche, d.h. systemexterne Komponenten umfassen“ (ebd., S. 80)).

 

 


Hier folgt nun das "didaktische Werk":

Mein Padlet "Smartphone im Kopf" ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt des Workshops: von hier werden Informationen entnommen und dorthin werden Beiträge "gepostet", diese können wiederum von den TN*innen "kommentiert" und bewertet werden.

Mit Padlet erstellt

 

Literatur:

  • Andy Clark, David Chalmers (1998) The extended mind, in: ANALYSIS, Vol 58, No. 1, S. 7-19 (Oxford Journals), zitiert nach: http://www.jstor.org/stable/3328150 
  • Holger Lyre (2010): Erweiterte Kognition und mentaler Externalismus, in Zeitschrift für Philosophische Forschung 64 (2/10), S. 190-215.
  • Holger Lyre (2016): Sozial erweiterte Kognition und geteile Intentionalität, in: Michel (2016a), S. 187-212.
  • Jan Michel, Kim J. Boström, Michael Pohl (2016) (Hg.): Ist der Geist im Kopf. Beiträge zur These des erweiterten Geistes, Münster. (Michel 2016a)
  • Jan G. Michel (2016b): The Extended Mind: Was ist eigentlich mit 'Mind' gemeint? Zum Verhältnis von Geist und Kognition, in: Jan Michel, Kim J. Boström, Michael Pohl (2016) (Hg.): Ist der Geist im Kopf. Beiträge zur These des erweiterten Geistes, Münster. (Michael 2016b).
  • Jan Michel (2016c): Vorwort, in: Jan Michel, Kim J. Boström, Michael Pohl (2016) (Hg.): Ist der Geist im Kopf. Beiträge zur These des erweiterten Geistes, Münster, S. 5-6, (Michel 2016c).