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Die "spätmoderne Kultur der Digitalität" (Reckwitz)

In der "Gesellschaft der Singularitäten" erzählt Andreas Reckwitz die Faszinierende Geschichte der spätmoderne, in der das Zusammentreffen dreier Struktumomente von Gesellschaft einen radikalen Wandel eingeleitet haT: "der Aufsteig des Kulturkapitalismus, der Siegeszug der digitalen Medientechnologien und die postromantische Authentizitäsrevolution in der neuen Mittelklasse". In der Folge erzählt Reckwitz wie der ehemalige Anspruch der Allgemeingültigkeit von (Hoch-)Kultur und Popularkurltur in der Spätmoderne erodiert ist und von "vielfältigen Formen der Singularisierung" abgelöst wurde.

 

1. Das Ende des Allgemeinheitsanspruchs von Kultur

 

Das Unterkapitel "Kultur zwischen Überproduktion und Rekombination" beschließt Reckwitz mit der Unterscheidung von Kultur in die drei Phasen "Klassische Moderne", "organisierte Moderne" und "spätmoderne Kultur (der Digitalität)". Das Merkmal der "klassischen und der organisierten Moderne" ist der Allgemeinheitsanspruch der Kultur. 

 

Der Allgemeinheitsanspruch in der klassischen Moderne:

  • "Was in ihr als Kultur galt, galt für alle in gleicher Weise";
  • Die Unterscheidung zwischen Produzenten und Rezipienten war geklärt;
  • Es gab "klassische Kulturobjekte" zur Orientierung;
  • Die Kulturpraktiken wurden in jeweils speziellen Räumen wahrgenommen (Theater, Konzertsaal, Bibliothek, bzw. Lesezimmer).

 

Die alles führte zum Existenz eines allgemeingültigen kulturellen "Kanons", der nur in kleinen Schritten der Veränderung unterworfen war.

 

Die "organisierte Moderne" war bereits eine Zeit der Transformation und reichte bis in die 1980er Jahre. Sie war geprägt vom Übergang der Hochkultur in die populäre Kultur. Diese Kultur war geprägt vom Film, Rundfunkt und Fernsehen. Neuerungen stellten sich ein:

 

  • Noch immer galt im Populäre die Allgemeinheit der Kultur (die man vielleicht mit der verbindlichen Samstagsabendshow versinnbildlichen kann).
  • "Nach wie vor stand den wenigen Kulturproduzenten die große Menge des Publikums gegenüber [...]";
  • die Kulturpraktiken waren kontextualisiert (Kinosaal, Wohnzimmer);
  • "die Kulturobjekte stabil (der einzelne Film beispielsweise".
  • auch "die Differenz zwischen Alt und Neu [war] intakt, jedoch
  • bereits einem radikaleren "Regime des Neuen, der Moden und Hits" unterworfen.

Worauf Reckwitz hinaus will: Mit digitalen Kultur kommt es zum radikalen Bruch: Die entstandene Kultur der "Spätmoderne" liefert jetzt "Platz für vielfältige Formen der Singularisierung". Der Allgemeinheitsanspruch ist gesprengt worden, der kulturelle Raum ist nun "'übervoll', plural und in ständiger Veränderung begriffen. Die scharfe Trennung von Produzent*in und Konsument*in ist aufgelöst (Vgl. für alle Zitate Reckwitz, S. 242 f.). Uns hat das zur Forderung nach einer erweiterten Habitualisierung von Lehrer*innen-Rollen im Sinne des lebenslangen Lernens und zur Idee des Co-Produsings im Unterricht geführt: Unterricht ist fortan (ästhetisch angemessene) Medienproduktion, verstanden als Remix vorhandener, "übervoller" Angebote der Kultur der Digitalität. 

 

Zwischenreflexion "Schule und Unterricht"

 

Unterricht in der spätmodernen Moderne leidet nach wie vor an übervollen Lehrplänen, die der Tendenz noch immer den Namen "Kern" zu Unrecht tragen. (Ja, auch das hat die Corona-Krise - wie unter einem Brennglas - noch einmal verdeutlicht). Kompetenzorientierung ist eigentlich ein Element von notwendigen Reaktionen auf eine übervolle Kultur der Digitalität. Die Realität der Schulen sieht noch immer anders aus: Die meisten Lehrer*innen (und auch hier ist es nicht in erster Linie eine Frage des Alters) orientieren sich an einem (hoch-)kulturellen Bildungskanon. Der Schritt in eine Kultur der Digitalität wird nicht gegangen, weil darin vor allem eine "Verflachung des Bildungsanspruches" gesehen wird. Es ist auch diese Orientierung, die einen konsequenten Übergang zu einem kompetenzorientierten Unterricht behindert. Diese Gemengelage führt zu einem Kampf mit Windmühlen: Denn die Schüler*innen können als Heranwachsende in dieser übervollen Kultur der Digitalität den Allgemeinheitsanspruch der vergangenen Moderne nicht erkennen. Während die Schüler*innen spezielle Überlebensalgorithmen entwickelt haben, um "ihr Ding" in der übervollen Kultur zu entdecken und zu pflegen, versuchen Lehrer*innen die Ideen der klassischen Moderne aufrechtzuerhalten, anstatt gemeinsam mit den Schüler*innen die Algorithmen des Auffindens im Netz zu lernen.

 

2. Fünf Merkmale der Kulturmaschine

 

Im oben angesprochenen Kapitel stellt Reckwitz fünf "wichtige Merkmale" der digitalen Kulturmaschine vor, die zu der "Hyperkultur" der Spätmoderne geführt haben.

 

  1. Punkt: Die Asymmetrie zwischen Überproduktion und Knappheit der Aufmerksamkeit.
  2. Punkt: "Der Dualismus zwischen Kulturproduzenten und Publikum schwächt sich ab [...]".
  3. Punkt: Die Kulturformate finden sich "demokratisiert" immer mehr auf einer Ebene wieder (Reckwitz nennt das Enthierarchisierung) und meint damit, dass im Netz Urlaubsfotos von Privatpersonen gleichrangig neben einem hochkulturellen Artefakt egal welcher Form (Text, Musik, Film) stehen können.
  4. Die Kulturformate werden nach Reckwitz radikal verzeitlicht; das soll heißen, dass im Netz "Gleichzeitigkeit, Neuartigkeit und Aktualisierung" die bestimmenden Prozesse sind.
  5. Im Netz ist das vorherrschende Format das des Remix.

 

3. Zwischenergebnis (Fazit)

 

Ein zentraler Konflikt oder ein zentrales Missverständnis zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen könnte in den gegenseitig unverstandenen, unausgesprochenen und also "heimlichen" Algorithmen liegen. Ich meine damit die Algorithmen, die bestimmen, welche Inhalte "zu lernen" sind. Während sich der Algorithmus der Lehrenden (heimlich) von der vermeintlichen Allgemeinverbindlichkeit des hochkulturellen Kanons der klassischen Moderne speist, speist sich der Algorithmus der Schüler*innen aus (heimlichen) Vorlieben für digitale Kanäle oder digitale Praktiken. Während die Schüler*innen verstanden haben, dass sie ihren digitalen Praktiken in einer (relativ) öffentlichen Kultur der Digitalität nachgehen, bestehen Lehrer*innen nach wie vor auf vermeintliche Praktiken der Datensparsamkeit oder des Datenschutzes. Dass Schule und die "Inhalte" oder "der Stoff", wie es in irritierender Weise im Kontext von Schulschließungen hieß, sich in der Überproduktion von digitalen Kulturartefakten behaupten muss, wird von Schule bisher kaum realisiert. Die (nicht erst in der Krise) erlebte Praktik von Schule und Schulbehörden sich in der neuen Aufmerksamkeitsökonomie Gehör zu verschaffen, besteht im Instrument Prüfung. Die abstrakte (Abschluss-)Prüfung bildet die Letztbegründung für "Schulstoff" in einer übervollen digitalen Kultur. Die Akzeptanz dafür bröckelt auch deshalb, weil die Setzung des "Stoffs" sich nicht in Formen vollzieht, die einer Kultur der Digitalität angemessen sind. Vorab ist meistens eine möglich "Gemeinschaftlichkeit" ausgeschlossen. Die Themen werden nicht verhandelt, sondern gesetzt. Die "Erarbeitungspraxis" entspricht nicht der Höhe der Zeit (die Form der Algorithmizität ist weitgehend außen vor). Der Remix in einer Kultur der Digitalität ist von Seiten der prüfenden Schule noch vollständig unverstanden. Dass Schule in einer Gesellschaft der Singularisierung endlich ihr Versprechung des individuellen Lernens, der individuellen Förderung und damit der Lernbegleitung erfüllen muss, ist nunmehr notwendigerweise immer Tagesordnungspunkt 1.

 

P.S. Die Lehrer*innen sehen es mir nach, dass ich nicht differenziert habe.

 

4. Literatur

 

Andreas Reckwitz (2018): Die Gesellschaft der Singulatitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Bonn, S. 238-243.