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Involviert in die 6. Revolution - Teil 2

Im ersten Teil habe ich in Grundzügen Floridis Idee zu den vier Revolutionen rekonstruiert und diesen zwei weitere hinzugefügt. Mit den Revolutionen geht einher, dem Menschen jeweils eine weitere "Kränkung" zuzumuten (die Erde ist nicht mehr Zentrum der Galaxis, der Mensch nicht mehr "Herr im eigenen Haus", die Kognition endet nicht an der Schädeldecke). Darauf aufbauend habe ich versucht, die Gedanken von Clark und Chalmers aus "Extended Mind" dazustellen (die sechste Revolution). Meine bisherigen Ergebnisse sind so zusammenzufassen: Die Menschen der Infosphäre werden durch künstliche Begleiter, die den Zugang zur einer beinahe unendlichen Spähre der Information eröffnen, in einen Zustand der kognitiven Kopplung versetzt. Alle intentionalen Aktivitäten mit den künstlichen Begleitern (Denken Sie sich hier das Smartphone als herausragendes Phänomen der Gegenwart) führen zu einer Erweiterung meiner Kognition. Das heißt auch, dass der Mensch ohne Kopplung heute weniger ist als das gekoppelte System Mensch plus künstlichem Begleiter (mit Floridi: der Inforg). Daran anschließend habe ich u.a. die Frage nach Bildung gestellt: Welches "Subjekt" mit Bildung ansprechen? Wie Bildung realisieren?

„Waaaas! Haben Sie etwa noch kein Kulturzugangsgerät? Ja wie schaffen Sie das heutzutage denn überhaupt ohne Kultur, so als Lehrerfortbildner?“ (Lisa Rosa)

 

 

4. Die neue Krankheit

 

"Dass es der Generation Z unmöglich sein dürfte, sich ein Leben außerhalb der Infosphäre vorzustellen, liegt dramatisch gesagt daran, dass die Infosphäre nach und nach jede andere Wirklichkeit aufsaugt. Die Generation Z kam onlife zur Welt". (Floridi, S. 68)

 

Luciano Floridi führt hier den Neologismus "onlife" ein. Er will damit ausdrücken, dass in unserer Welt der Infosphäre eine Unterscheidung zwischen "Offline" und "Online" hinfällig geworden ist, bzw. keinen Sinn mehr macht (Wir reden hier nicht über die Realität des Netzausbaus in Deutschland). Die Infosphäre durchdringt alles und “saugt alles auf". Des Weiteren antizipiert er, dass eine liberale Ethik für die Infosphäre, eine Infraethik, mehr oder weniger paternalistisch sein wird und ergänzt dies dadurch, dass sie so wenig wie möglich paternalistisch sein sollte (vgl. Floridi S. 249). Diesem Ansatz bin ich gefolgt, als ich das megapaternalistische „10-Gebote“-Programm der Stuttgarter Forscher in eine angemessenere Form überführt habe. Dennoch sind meine 14 Memes für ein Leben onlife weiterhin graduell paternalistisch.

 

Was hat das nun mit den Schulen zu tun? Die Schulen sind – auf den ersten Blick – ein Ort der Zusammenkunft und des Gemeinsamen. Schaut man jedoch genauere hin, erkennt man, dass die Schulen in der heutigen Form i.d.R. das onlife-Band zerschneiden. Schülerinnen und Schüler werden aus ihrem onlife-Leben in das atavistische offline-Leben zurückgeworfen. Wir kennen all die Einwände, die diesen Zustand rechtfertigen: "Die Jugend hängt schon den ganzen übrigen Tag an den Geräten, dann ...." oder "Die Grundlage von allem ist die echte Begegnung, das 'Offline-Miteinanderklarkommen' ..." usw. So wird sofort schon sichtbar, dass Motivation und Extra-Lerneffekte, die durch Kollaboration, Kooperation und Kommunikation onlife die Regel sind, in der Schule zunächst ausfallen. Was nutzt all die Orientierung der Lehrkräfte mit neuen Modellen von "4K" über "SMAR" bis "TPACK" u.a., wenn in der Schule die Realität entweder mit dem Wort "Offline" oder aber mit nicht personalisierbaren Geräten (Computerraum, Ausleihtablets) beschrieben werden muss? Das Potential der Inforgs wird nicht abgerufen. Die Dauerunterforderung ist die neue alte Realität. Vieles spricht für persönliche künstliche Begleiter, auf die ein Zugriff jederzeit sichergestellt ist. Aus dem "College-Block" ist längst das persönliche Smartphone und das persönliche Tablet geworden. "Powerbanks" sind ein Übergangsphänomen. Onlifer haben heute mehrere digitale Begleiter, und die Wahrscheinlichkeit, dass alle Begleiter in einer stromarmen Umgebung auf Null-Prozent-Energie fallen, ist in etwa so groß wie die Wahrscheinlichkeit einer Krankenhauseinlieferung ihres Besitzers oder Besitzerin aufgrund extremer Unterzuckerung. 

 

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay.

 

Einige Passagen von Floridi lesen sich "auf den ersten Blick" als könnte durchaus etwas für das Offline-Leben sprechen, er schreibt: „Wenn die Migration (der digital immigrants = Generation X und Y) abgeschlossen ist, wird die Generation Z, wie ich vermute, mit jedem Mal, da sie von der Infosphäre abgeschnitten ist, unter stärkeren Entzugserscheinungen leiden, sich benachteiligter, versehrter oder schlechter fühlen, paralysiert und psychisch traumatisiert, wie ein Fisch außerhalb des Wasser. Eines Tages wird das Dasein als Inforg so selbstverständlich sein, dass uns jede Unterbrechung unseres normalen Informationsflusses krank machen wird“ (Floridi, S. 134). Aber Achtung! Es geht hier um den Fisch! Er kann nicht ohne Wasser. Der Fisch ist noch schlimmer dran als Jörans Pinguine: Und wir sind jene Säugetiere, die den Weg an Land schon immer als Irrweg gedeutet haben und daher ins Wasser zurückgekehrt sind, respektive die Infosphäre entwickelten. In den hypergeschichtlichen Gesellschaften der Infosphäre sind wir die Delphine (Wale)! Die Revolution der Biosphäre in eine Infosphäre führt zur Evolution des Menschen. Und daher gilt: Es ist nicht das Onlife-Leben, das in 2019 die krankhafte Sucht ist (auch dann nicht, wenn Floridi oben das mit „Entzugserscheinungen“ erfasst). Krank macht der Entzug der Onlife-Erfahrungen. Und somit haben wir es tagtäglich mit erkrankten Inforgs in der Schule zu tun. Wer kann das verantworten und unter diesen Bedingungen unterrichten?

 

Verschärfen wir die Überlegungen nun. Floridis „4. Revolution“ enthält tatsächlich mehrere Passagen, an denen implizit deutlich wird, dass er über die erweiterte Kognition, so wie sie mit Chalmers und Clark seit 1998 vorliegt, reflektiert und sie als Konzept verwirft. Im Kapitel zu „künstlichen Begleitern“ heißt es: „Unsere neuen Gedächtnisverwalter werden alte Probleme verschärfen und neue komplizierte schaffen. Die Frage, was gelöscht, und nicht die, was aufgezeichnet werden soll (wie sie sich bei unseren Emails bereits stellt), die Frage der Sicherheit und Aufbereitung des Aufgezeichneten, die der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Übertragung der aufgezeichneten Information, ihrer Lebensdauer, künftigen Verwertung und ‚Wiederholung‘, das Problem des Umgangs mit den KB (Künstlichen Begleiter, M.S.), die ihre menschlichen Partner überlebt haben, das der Wiederherstellung des subtilen Gleichgewichts zwischen der Kunst des Vergessens und dem Prozess des Vergebens (…), heikle Fragen im Zusammenhang mit der informationellen Privatsphäre und die Frage der Auswirkungen, die all diese Dinge auf die Konstruktion personaler und sozialer Identität und auf die Erzählungen haben, die die Vergangenheit der Menschen ausmachen und ihre Wurzeln bilden: dies sind nur einige Themen, die eine sorgsame Behandlung erfordern, und das nicht nur in technologischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf Bildung und Philosophie“ (Floridi, S. 208). An anderer Stelle wird es noch deutlicher, weil es um die Identität von uns Inforgs geht, allerdings zitiert er hier zustimmend Kevin Bankston, Im Kapitel über uns „Inforgs“ hat sich Floridi ja gegen die These vom erweiterten Geist gewendet (siehe oben). Kurz vorher hat er erklärt, dass wir in der 4. Revolution (mit Turing) nicht mehr alleine sind in der Infosphäre: „Das Telefon und sein Benutzer teilen sich jetzt dieselbe Umgebung als zwei informationelle Handlungsträger“ (Floridi, S. 130). Bei Floridi sind es zwei informationelle Handlungsträger, bei mir ein kognitiv gekoppeltes System.

 


mit Dank an "Mr. Tee"

 

5. Der erste Grundsatz einer Ethik für kognitiv gekoppelte Systeme

 

Im Kapitel über den Wert der Privatsphäre kombiniert Floridi bereits einige Gedanken in eine juristische Konsequenz: „Wenn wirklich anerkannt würde, dass es sich bei persönlicher Information um einen konstitutiven Teil der Identität und Individualität eines Menschen handelt, könnte es eines Tages streng unter Strafe gestellt werden, mit irgendwelcher Information persönlicher Art zu handeln, genau wie der Handel mit menschlichen Organen (die eigenen eingeschlossen) oder Sklaven unter Strafe gestellt ist“ (Floridi, S. 163). Von dieser juristischen Spekulation bis zu einer ethischen Konsequenz ist der Weg ein kurzer: Schauen sie sich nun eine Passage des Interviews mit David Chalmers an:

 

David Chalmers holt sein Smartphone hervor!

 

Was wäre also gegeben, wenn wir der Argumentation folgen? Tatsächlich argumentieren wir hier, dass die Wegnahme eines „künstlichen Begleiters“ (i.d.R. stellen wir uns dabei ein Smartphone vor) nichts anderes darstellt, als dass uns ein Teil unseres Geistes, besser: unserer Kognition, weggenommen würde. Eine wirklich ungeheure Tatsache. Dass man daher niemals mehr daran denken sollte – noch dazu in der Schule –, ein Smartphone aufgrund des Gebrauchs wegzunehmen, liegt auf der Hand. Und das aus mindestens zwei offensichtlichen Gründen: Erstens hat diese drastische Maßnahme vielleicht ihre Berechtigung im Strafvollzug (vermutlich aber auch dort nicht), niemals aber in der Schule, und zweitens sollte unsere Lehre für das Leben onlife auf den neuen ganzen Menschen, den Inforg oder "io", ausgerichtet sein. Und dieser Inforg ist ein informationelles Wesen, das durch künstliche Begleiter, auf denen der Mensch intentional Wissen reorganisiert hat; und dieser Mensch wäre ohne diese Erweiterung kein vollständiges Wesen mehr. Da es aber Rechtsgrundsatz jeder modernen Gesetzgebung und Ethik ist, jedes Wesen körperlich und geistig unversehrt zu belassen (und das gilt im Übrigen auch für Straftäter), ist die Wegnahme aller kognitiv gekoppelter Gegenstände, aller künstlichen Begleiter rechtlich und ethisch nicht zu rechtfertigen. Das ist der erste, in negativer Form formulierte, Grundsatz der Ethik der Infosphäre. Formuliert man diesen Grundsatz positiv, dann lautet er: Sichere jedem Inforg die Integrität seines Wesens (zu), indem der Zugang und der Zugriff auf seine kognitiv-gekoppelten Gegenstände jederzeit gesichert ist.

 

Das Bild zeigt ein Gerät, das mit einem Gerät gekoppelt ist, das mit einem Menschen gekoppelt ist.

Foto von Luke Chesser auf Unsplash

 

 

6. Die Bildungsrevolution auf Basis des ersten Grundsatzes dieser Ethik

 

Was wäre nun, wenn wir von dieser rechtsphilosophischen und ethischen Grundlegung aus Lehren und Lernen, Bildung und Ausbildung neu denken? Wenn die Bildungsanstrengungen den Anspruch haben sollen, den ganzen Inforg anzusprechen, dann muss das ganze kognitiv-gekoppelte System "Schüler*in" adressiert werden. Um es pathetisch zu formulieren: Wer wirklich den „ganzen Menschen“ bilden will, muss ihn als informationelles, kognitiv-gekoppeltes Wesen (als Inforg) ansprechen. Die didaktischen Leitfragen müssen sich von der Idee entfernen (das tun sie im Übrigen schon seit Jahren) „Was weiß der isolierte junge Mensch (noch nicht)?“, hin zur Fragestellung (unter konstruktivistischer Fahne): "Welche Irritationen benötigt das kognitiv-gekoppelte System "x-io" um ggf. eine Neubewertung der zugänglichen Informationen und der daraus entwickelten Haltung zu entwickeln?" Dass diese Didaktik hochgradig individuell auszurichten ist, versteht sich von selbst, zumindest dann, wenn man unter „individuell“ ein einziges kognitiv-gekoppeltes System versteht. Ebenso verhält es sich mit Prüfungen. Echte Prüfungen beziehen sich zukünftig immer auf das ganze kognitiv-gekoppelte System. Wissensfragen treten in den Hintergrund (sie werden temporär "ins Bewusstsein" geholt und zu gegebener Zeit mit Recht wieder vergessen). Haltungen und deren Begründungen geraten in den Vordergrund. Und ja, in einer Übergangszeit werden „in den Sprachen“ Vokabeln noch vom Schüler und von der Schülerin gelernt; doch gleichzeitig beobachten wir - ohne groß in Aufregung zu geraten - wie sich die Generationen Z und die ihr folgenden bei diesem Lernprozess von künstlichen Begleitern unterstützen lassen. Tun wir alles dafür, dass sie sich auch noch von menschlichen Begleitern, von echten Lernbegleitern und Lernbegleiterinnen unterstützen lassen wollen. 

 

 

Literatur:

 

10 Gebote der digitalen Ethik, nach: https://www.digitale-ethik.de/digitalkompetenz/10-gebote/

14 Memes für ein Leben onlife, nach: m-schoengarth.de/14-Memes-für-ein-Leben-onlife

David Chalmers (Interview): nach: https://www.youtube.com/watch?v=Jg00gK43Id4&feature=youtu.be&

Luciano Floridi (2015): Die 4. Revolution. Wie die Infosphäre unser Leben verändert, Berlin (eBook Suhrkamp Verlang).

Lisa Rosa (2014): Kulturzugangsgerät, kleine Abhandlung, zitiert nach: https://shiftingschool.wordpress.com/2014/10/21/kulturzugangsgerat-kleine-abhandlung/