"Irgendwann indes merken auch die treuesten Anhänger der digialen postindustriellen Cyber- und Informationsgesellschaft, dass die aufwändig übers Internet bestellte Pizza genauso lauwarm und pappig schmeckt wie die telefonisch bestellte" (Hönicke 1998).
Vor 20 Jahren fragte ich, was zu berücksichtigen sei, wenn man Schülerinnen und Schüler medienkompetent aus der Schule entlassen will? Eine Pizza über das Internet "äufwändig" zu bestellen, sollte es wohl eher nicht sein. P.S. Die Pizza, die heutzutage ganz unaufwändig über eine App bestellt wird, ist und bleibt lauwarm und pappig. (Es folgen einige Blogbeiträge aus meiner nicht veröffentlichen 2. Staatsarbeit von 1998):
Der folgende Text bezieht sich auf die folgenden, damals für relevant gehaltenen Publikationen:
Bühl (1996) Cybersociety;
Hönicke (1998): Aus Träumen könnten Schäume werden. Das Internet erfüllt die hochgesteckten Erwartungen bislang nur selten (FR, 7.2.1998)
Lem (1980): Summa technologiae
Mittelstraß (1996): Wortbeitrag in TV-Sendung "In 80 Sekunden um die Welt" (SDR)
Sendbothe (1996): Medienethik im Zeitalter des Internet.
Ist die Menschheit mit dem "dialektischen Zeitalter des Bildes" tatsächlich bereits in eine Phase "neue(r) Dummheit" (Mittelstraß 1996) eingetreten? Weil das Subjekt um sein Selbstbewusstsein gebracht wird, da das cogito, ergo sum, das sich noch durch sein Misstrauen gegenüber dem Bild auszeichnete, durch das video, ergo sum abgelöst wurde? Ambiguitätstolerant sollen wir also neben neuen Freiheiten eine "neue Dummheit" heraufziehen sehen, da sich das ehemals selbstbewusste Subjekt in einem entortetes, fragmentiertes Informationssammelwesen transformiert?
Diesem kritischen, dystopischen Zukunftsentwurf soll hier ein anderer entgegenstellt werden: eine Welt mit einem selbstbewussten, in der Realwelt verorteten Mediennutzer, der Kategorien der Unterscheidung und Entscheidung besitzt; dergestalt kann die Tendenz der Informations- und Unterhaltungsmedien, sich zu einer totalen phantomatischen Maschine zu entwickelt, konterkariert werden. Der Science-Fiction-Autor und Philosoph Stanislaw Lem hat mit dem Konstrukt der phantomatischen Maschine eine Welt zeigen wollen, in der zwischen Realität und Fiktion kaum mehr unterschieden werden kann. Die Maschine stellt virtuelle Welten her, die der Wirklichkeit gleichen und in der behauptet werden kann, dass die Fiktion selbst die Wirklichkeit sei. (Insofern schließt die phantomatische Maschine an die vom Philosophen Robert Nozick entwickelte Glücksmaschine - als Gedankenexperiment - an). Die total Phantomatisierten könnten schließlich nur noch durch den radikalen Rückgriff auf sich selbst Sicherheit darüber erlangen, ob sie sich nun in der Realität oder der Fiktionalität bewegen. Die phantomatisierte Welt sei deshalb eine der totalen Vereinsamung (vgl. auch Bühl). Der phantomatische Apparat wurde im "Blockbuster"-Kino v.a. 1990 mit Total Recall popularisiert und löste eine Welle von VR-Filmen in den 1990er Jahren aus. [Diese Welle kulminierte schließlich in The Matrix (1999)]. Total Recall basierte auf der Kurzgeschichte Erinnerungen en gros von Philip K. Dick, der Vorlagen für zahlreiche verfilmte Gedankenexperimente lieferte. (Schon 1973 verfilmte Rainer Werner Fassbinder das Gedankenexperiment in Welt am Draht, das auf dem Roman Simulacron-3 zurückging).
Von Bühl kennen wir schon folgende Überlegung: 'In der CyberSociety tritt der Cyberspace an die Stelle des realen Raumes, die virtuelle Zeit an die Stelle der Realzeit. Aus analytischen Gründen verwenden wir zur Charakterisierung des epochalen Wandels das Unterscheidungskritierium der Virtualisierung. Die Virtualisierung trennt die klassische Industriegesellschaft von der CyberSociety. Unter Virtualisierung wollen wir einen computerinitiierten Prozess verstehen, in dessen Verlauf an die Stelle des realen Raumes der virtuelle Raum als bestimmende Größe mikro- und makrosoziologischer Bereiche tritt. Das Ergebnis der Virtualisierung bezeichnen wir als Virtualität, die so strukturierte Gesellschaft als virtuelle Gesellschaft oder CyberSociety'.
Die so gewonnen Ergebnisse ermöglichen jetzt eine Rückverortung der im Virtuellen real handelnden Akteure. In der virtuellen Gesellschaft agieren die Menschen vor und "hinter" dem Bildschirm, dem Cyberspace, dort entwickeln und entfalten sie ihre Fähigkeiten: 'Im Internet entstehen [...] neue transnationale Gesellschaftsformen und transgeographische Lebensräume. Zentrale Grundlage der Internetethik wird aus diesem Grund die Berücksichtigung der [...] intermedial zu definierenden virtuellen Gemeinschaftsformen sein' (Sendbothe). Die Internetnutzer werden Teil einer jetzt globalen CyberSociety und als solche für nichts weniger als für diese Weltgesellschaft durch ihr Handeln verantwortlich. Medienkritisches und -kompetentes Handeln ist daher notwendig zu definieren als Teil einer weltgesellschaftlichen Verantwortungsethik. Diese ist - in einer weitgehenden Abstraktion - die Fähigkeit, zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Realität und phantomatischer Virtualität zu unterscheiden.
Der hier zu entwickelnde erste Aspekt von Medienkompetenz ist der einer kritischen Methodenkompetenz, die von Lernenden angewendet, Emanzipation in sozialer Verantwortung fördert und somit einen Programmpunkt der Oberstufenrichtlinien einlöst (Richtlinen 1991 für alle Fächer).
[Und dann kamen die "sozialen Medien" 2003/04 mit Facebook auf und zerstörten meine Utopie].