Der Beitrag will anhand einer relativ neuen "Verteidigung des Pazifismus" (in Buchform) ausloten, ob die Argumente eines pragmatischen und verantwortungsethischen Pazifismus, so die Position des Autors Olaf Müller, ausreichen, um in einem konkreten Konflikt, nämlich dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, philosophisch begründete Argumente gegen eine starke militärische Unterstützung der Ukraine zu generieren. Die Antwort lautet: "Tendenziell NEIN. Das Schicksal der Menschheit spricht für eine starke militärische Unterstützung im Rahmen der UN-Charta und des Völkerrechts". Auch die sehr gehaltvollen Ausführungen von Müller reichen nicht, um einem bestimmten Verständnis von Pazifismus Vorrang einzuräumen.
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1. Der Ausgangspunkt: der 24.2.2022
Vor nunmehr über einem Jahr fand die widerwärtige Aggression gegen die Ukraine statt. Es hat lange gedauert, bis sich in den westlichen Demokratien die Einsicht durchgesetzt hat, nicht nur deklamatorisch "an der Seite" der Ukraine zu stehen, sondern auch die militärische Hilfe zu organisieren und zu leisten, die dem angegriffenen Staat nach der UN-Charta und dem Völkerrecht zusteht. Diese Hilfe, die der demokratische Westen leisten wollte, stand von Anfang an - und da war noch nicht von schweren Panzern die Rede - unter dem Verdacht, das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, einzuläuten. Denn von Anfang an wurde dem Westen mit der nuklearen Schlagkraft Russlands gedroht. Tatsächlich hatte und hat dieser "Hinweis", dass es einen Weg "in die Apokalypse" geben könnte, nur den Zweck, dass die Angst und damit die Ängstlichen in den Demokratien die Oberhand gewinnen. Aber ist Angst in diesen Zeiten ein guter Ratgeber?
2. Exkurs: Orientierung finden unmittelbar nach Beginn des Angriffskrieges
Vor einem Jahr schien mir eine Orientierung noch klar vor Augen: Am besten wäre es, so sagen es einige wenige Zeilen von Bertrand Russell (siehe unten 3A), möglichst keinen militärischen Widerstand zu leisten, um die Opferzahlen niedrig und die Zerstörungen gering zu halten, also möglichst viele Menschenleben zu retten. Obwohl ich wusste, dass dieser Krieg irgendwie schon 2014 begonnen hatte, und obwohl ich wusste, dass in den folgenden acht Jahren niemand die ukrainische Bevölkerung zum passiven Widerstand ausgebildet hatte, glaubte ich mit der Erinnerung an diese Option den bellizistischen Falken etwas entgegensetzen zu können. Dem strengen Gedanken schon weniger konsequent folgend räumte ich ein: Wenn der Aggressor dann mit "unnötiger Gewalt" weitermacht, dürfen die Angegriffenen selbstverständlich zu den Waffen greifen. So klar, wie ich dachte, weil gesinnungsethisch "rein", war diese Position wohl doch nicht. Und dass der Krieg vom Aggressor bald mit brutaler Gewalt und täglichen Kriegsverbrechen auch gegen die Zivilbevölkerung geführt werden würde, hatte ich nicht hinreichend antizipiert.
3. Das kluge Büchlein "Pazifismus. Eine Verteidigung" von Olaf Müller
Der Philosoph Olaf Müller hat ein sehr kluges Büchlein geschrieben. Ich werde hier nicht alles wiedergeben können (vielleicht an anderer Stelle). Ich stelle zunächst einmal ein paar wesentliche Aspekte zusammen:
A. Ich fand meinen eigenen Bezug auf Bertrand Russell wieder. Ich füge einmal Russell im Original hier ein: „In den meisten Streitfällen zwischen zivilisierten Nationen ist sowohl die Gewalt als auch der gewaltsame Widerstand schädlich, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. Eine Nation, die einer Gewalt lediglich durch passiven Widerstand begegnen würde, trüge mehr dazu bei, die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen zu vermindern, als je eine Nation tun könnte, die Gewalt mit Gewalt vergilt“ (Bertrand Russell, Die Philosophie des Pazifismus, 1915). Müller erklärt mir darüber hinaus, dass Russell zusammen mit Einstein im zweiten Weltkrieg für einen Befreiungskrieg durch die Alliierten waren, weil dasjenige, was die Nazis taten, ihnen als Zivilisationsbruch galt und daher eine einmalige Ausnahme zur pazifistischen Regel möglich und nötig machte.
B. Diese Fähigkeit, eine Ausnahme von von der Regel einzusehen, hält Müller für so bemerkenswert, dass er schon Russell zusammen mit Einstein zu verantwortungsethischen Pazifisten erklärt. Müller erweitert die eigene Position mit "pragmatisch", er nennt sich einen pragmatischen verantwortungsethischen Pazifisten. Man kann aus dem Büchlein eine Art Hufeisenthese (wie bei der Extremisten- oder Totalitarismusthese) herauslesen; demnach existieren zwei entgegengesetzte starke Positionen, die sich in einem Punkt zusammenfinden, sie nehmen keine Rücksicht auf die Folgen des Tun, das meint ja "der Gesinnung nach". Müller schreibt: "Ein plausibler Pazifismus darf weder maßlos noch unverhältnismäßig werden; man sollte ihn nicht um jeden Preis hochhalten. Zieht seine strikte, rigorose Befolgung viel zu schlimme Konsequenzen nach sich, dann muss man sich dem Verbot kriegerischer Handlungen entziehen. Wenn dem so ist, ergibt sich daraus freilich eine Folgerung, die gerade in unseren Tagen nicht jedem eifrigen Kritiker der pazifistischen Gesinnungsethik schmecken wird. Und zwar erstreckt sich die Überlegung auf alle Formen des gesinnungsethischen Umgangs mit Krieg – also auch auf die gesinnungsethische Befürwortung von Krieg, insbesondere auf das, was ich gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus nennen möchte. Der besagt Folgendes: Wer Opfer eines unrechtmäßigen, verbrecherischen Angriffskriegs wird, der darf sich – koste es, was es wolle – mit allen militärischen Mitteln gegen den Angreifer zur Wehr setzen; Angriffskrieger dürfen und müssen um jeden Preis gestoppt werden. Und wenn dies den Weltuntergang per Atomkrieg mit sich bringt, »dann soll es halt so sein!«" (Müller 2022, Pazifismus, S. 26-27. Kindle-Version).
C. Dass der Versuch einer Folgenabschätzung gleichwohl große Schwierigkeiten mit sich bringt, das weiß Müller. Dennoch bietet er dieses "Bild" von Waagschalen an: "Laut dieser verantwortungsethischen Forderung müssen wir auf die eine Waagschale alles Übel legen, das aus der Beteiligung an dem fraglichen Krieg für sämtliche von ihm betroffenen Menschen resultiert, und auf die andere Waagschale alles Übel bei Kriegsverzicht. Und nur dann, wenn sich die Waage auf der Seite des Kriegsverzichts deutlich nach unten senkt, weil dessen Übel schwerer wiegen, nur dann ist an dessen Stelle der Eintritt in den Krieg moralisch erlaubt und wohl sogar geboten. – Oder um dies Kriterium (den pragmatistischen Überlegungen aus dem 3. Abschnitt zuliebe) als Tendenz-Aussage zu fassen: Ein Krieg ist moralisch umso eher akzeptabel, je deutlicher sich die Waagschale der Übel bei Kriegsverzicht im Vergleich zu den Kriegsübeln nach unten senkt". (Müller 2022, Pazifismus, S. 34, Kindle-Version).
D. Müller versucht dann mit kontrafaktischen wenn-dann-Sätzen über Krieg umzugehen. Er führt das am Beispiel des Kosovo-Krieges als Fallbeispiel durch. Was ist der folgende Satz wert? "Hätte die NATO keine Bomben auf Ziele im Kosovo und in Serbien abgeworfen, dann wären mehr Kosovo-Albaner und Serben getötet, verletzt oder vertrieben worden"? (Müller, 2022, Pazifismus, S.67, Kindle-Ausgabe).
Müller vertritt in diesem Zusammenhang eine pessimistische These, nämlich, "dass wir im Allgemeinen über kontrafaktische Sätze zum Thema Krieg und Frieden nicht mit derselben Objektivität befinden können wie im Fall einfacherer Sätze [...]". Und zugleich vertritt er eine optimistische These, "dass wir uns trotzdem ein recht gut begründetes Urteil über die Wahrheit oder Falschheit solcher Sätze zurechtlegen können" (Müller 2022, Pazifismus, S. 45, Kindle-Version).
E. Am Beispiel des Kosovo zeigt Müller dann, was der Westen aus Sicht eines pragmatischen verantwortungsethischen Pazifisten hätte tun sollen: friedliche STREITSCHLICHTUNG lehren. Er schreibt: "Pazifisten werden fast immer zu spät nach ihren friedliebenden Gegenvorschlägen gefragt; sie erwidern darauf, dass Friedensarbeit früher ansetzen muss als kurz vor Ausbruch massiver Gewalt.
In diesem Sinne ist es meiner Ansicht gut denkbar, dass schon im Jahr 2014 (nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Krim durch Russland) die meisten Bürger aus den verbliebenen Regionen der Ukraine einen mächtigen gewaltfreien Widerstand hätten einüben können, der deutliche Signale nach Russland gesendet hätte: Hier ist ein überwältigender Teil der Bevölkerung, der zum ukrainischen Staat steht und der sich gegen eine Fremdbestimmung aus Moskau mit allen Mitteln des zivilen Ungehorsams widersetzen wird; wir sind Millionen! – Putins offenkundige Fehleinschätzung der Stimmung in der Ukraine hätte sich auf diese Weise vielleicht im Voraus abfangen lassen". (Müller 2022, Pazifismus, S. 73, Kindle-Version). Hier hat Müller einen guten Punkt! Ich verstehe das so, dass die Welt und mit ihr die Menschen noch immer soweit in archaischen Strukturen stecken, dass gewaltfreie Widerstandsaktionen heute noch nicht durchführbar sind. Ich verstehe es aber zugleich als Aufruf, nunmehr konsequent in allen Teilen der Welt, in der das heute schon möglich ist, durch Friedensarbeit Formen des gewaltfreien Widerstands zu lehren und zu erproben.
F. Wie endet Müllers Buch? Einerseits zeigt er den unverbrüchlichen Glauben an das Gute im Menschen und er zeigt, dass es gute Gründe dafür gibt so vorzugehen. Selbst die Naturwissenschaften, die eigentlich auch Kulturwissenschaften sind, haben sich Prinzipien wie "Einfachheit" und "Schönheit" gegeben, dazu Müller: "Zugegeben, der Glaube an das Gute im Menschen ist ein Ideal, aber darin nicht anders als der Glaube an die Schönheit des Kosmos, der unsere Physik so sehr beflügelt hat. [...] Meiner Ansicht nach steht die Menschheit in Bezug auf Krieg – und also mit Blick auf sich selbst – an einem ähnlichen Startpunkt wie ganz am Anfang der neuzeitlichen Physik mit Blick auf den Kosmos: Die Physiker haben damals (in der Mitte des vorigen Jahrtausends) mit ihren revolutionären Leitprinzipien einen vertrauensvollen Sprung gewagt. Die im Sprung ausprobierten Werte waren hochkontrovers; beinahe erschienen sie zu schön, um wahr zu sein. Doch da sie erfolgreich waren und heute in der physikalischen Arbeit von vielen Forschern respektiert werden, ergibt sich zumindest für mich daraus die Hoffnung, dass eines Tages auch die Werte und Leitprinzipien der Pazifisten breitere Anerkennung finden werden als gegenwärtig. Man müsste sie nur endlich einmal ausprobieren. Und warum nicht bald? Seit Jahrtausenden schlagen einige versprengte Idealisten vor, mit Krieg schon im Denken radikal Schluss zu machen – und seit Jahrtausenden traut man sich nicht, ihnen zu folgen". (Müller 2022, Pazifismus, S. 87, Kindle-Version). Hier hat Müller einen guten zweiten Punkt! Friedenserziehung ist in Gegenwart und Zukunft daher mindestens genau so zwingend notwendig wie, nun ja, Physik-Unterricht.
G. Zum Schluss, in fünf kleinen Unterkapiteln ist sich Müller nicht zu schade, um seine Angst auszusprechen. Krieg könne heute in ein unüberschaubares und unkontrollierbares Chaos abgleiten. "Wer etwa die Angst vor einem Atomkrieg infolge von Waffenlieferungen in den Wind schlägt, weil die Katastrophen-Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich hoch sei, der gibt sich dadurch nicht als Realist, sondern als Verächter eines bestimmten Wertsystems zu erkennen, denn auch er braucht gewisse Werte, um seine Haltung zu stabilisieren; so schätzt er die Bedeutung von Risiko und Tatkraft höher ein als die von Vorsicht und Sorge. Mit alledem will ich nicht sagen, dass dieser Streit unentschieden ausginge, ganz im Gegenteil – wie ich als Nächstes plausibel machen möchte, ist die ängstlichere, vorsichtigere Haltung des Pazifisten insgesamt attraktiver" (Müller 2022, Pazifismus, S.94, Kindle-Version).
H. Bis zu dem Punkt, dass auch ich - auch als Historiker - die Werte "Vorsicht und Sorge" höher einschätze als "Risiko und Tatkraft" gehe ich mit Müller. Ich gehe sogar weiter Hand in Hand, wenn er im Unterkapitel "Inferno" die ansteigende Gefahr eines zufällig auslösten Atomkriegs anspricht. Meine Zustimmung kippt, wenn er direkt in diesem Zusammenhang ausführt: "In der Tat wächst die Gesamtwahrscheinlichkeit dafür mit jedem einzelnen bevorstehenden Tag, an dem eine nervöse Atommacht kriegerische Schläge auf ihre Truppen und Ausrüstung hinnehmen muss (und auch diese Gefahr schert sich nicht um den feinen Unterschied zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg). Wer den Pazifisten hierin widerspricht, gibt sich dadurch als Anhänger anderer Werte zu erkennen" (Müller 2022, Pazifismus, S. 95-96, Kindle-Version).
3. Was tun mit dem behutsamen Vorgehen von Müller und seinem Ergebnis?
Das Ende des Buches ist keine Kapitulation, es ist eher ehrlich und zeugt von Charakter, dass hier jemand vor der Öffentlichkeit seine Schwäche und seine Schuld eingesteht. Das Ergebnis Müllers ist identisch mit dem gesinnungsethischen Pazifismus: man überlässt die Ukraine sich selbst und steht zu seiner Schuld, die man damit auf sich lädt.
Müller hat sich der eigenen Auskunft nach in Unterkapitel 28 von Panik hin auf berechtigte Angst vor einem Atomkrieg entwickelt. Müller beendet jedoch so sein Buch. Wir dürfen jedoch nicht dort stehen bleiben. Wir müssen dem die entscheidenden Unterschiede aufzeigen: In einer rationalen Welt existieren Atomwaffen nur, um nicht eingesetzt zu werden. D.h., wir müssen bereit sein, diese Waffengattung aus der Gleichung herauszunehmen. Dass damit die Gefahr eines Atomkriegs nicht völlig ausgeschlossen ist, dass ein solcher durch die Verkettung unglücklicher, chaotischer und daher zufälliger Ereignisketten, gehört gleichfalls nicht zu den Variablen die Gleichung, denn diese zufällige Auslösung hat nichts mit dem Führen eines konventionellen Krieges zu tun.
Das Schreiben dieser Zeilen ist anstrengend, denn es ist das Gegenteil davon, sich seinen Ängsten oder Neigungen hinzugeben. Es ist der Versuch, sich diesen zu stellen und ihnen eine rational reflektierte Position gegenüber zu stellen.
4. Die Lösung mit Hannah Arendt und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
Jetzt muss eine andere Frage an Bedeutung gewinnen. Ich versuche sie so zu formulieren: Warum muss das getan werden, was die Falken und die Bellizisten (immer bezogen auf den Verteidigungskrieg der Ukraine) sagen? Und vor allem: Was ist eigentlich ihr Grundargument? Beginnen wir mit der zweiten Frage. Eine Neuordnung des Grundarguments könnte etwa so aussehen: Russland hat sich vor dem Krieg in eine Diktatur verwandelt und mit dem Krieg in eine despotische Diktatur. Der ukrainische Verteidigungskrieg ist ein Verteidigungskampf gegen die Barbarei. Wenn wir (im Westen) die Barbarei nicht rigoros dort stoppen, wo sie im letzten Jahr auszubrechen drohte, dann sind letztlich alle Freiheiten, die "wir" genießen, in Gefahr. Es ist daher ein Gebot der UN-Charta, das angegriffene Land mit allen notwendigen Mitteln zu unterstützen. Die rote Linie ist die direkte Beteiligung der Lieferanten am Krieg. Die Deutungshoheit über die rote Linie liegt bei den Verteidigern und ihren Unterstützern, nicht bei den Aggressoren.
Damit stellen sich für die Bellizisten zwei entscheidende Fragen: Ist nicht bereits eine Situation eingetreten, in der die freie Menschheit für ihre Werte einstehen muss? Muss man nicht auch etwas riskieren, um sie zu verteidigen?
Warum beide Fragen mit JA zu beantworten sind, geht in ihrer "Reinform" aus Hannah Arendts Reflexionen über Lager, Tod und Vernichtung der europäischen Juden hervor. Aber die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (und wenig später auch das Grundgesetz der Bundesrepublik) haben etwas zu sagen. Und das, was es sagt, richtet sich unmissverständlich gegen die Organisatoren der "Friedensdemonstration" in Berlin am 25.2.2023.
Zunächst Hannah Arendt: In einer ihren vielen Kolumnen, die sie in New York während des Krieges verfasste, gibt es mindestens eine, gleich hier zitierte, heroische und vielleicht in ihrer Radikalität irritierende Aussage. Arendt schreibt: "Es war einmal eine glückliche Zeit, als Menschen frei wählen konnten: Lieber tot als Sklav', lieber stehend sterben, als auf den Knien leben. Und es war einmal eine verruchte Zeit, als schwachsinnig gewordene Intellektuelle erklärten, das Leben sei der Güter höchstes. Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewiesen wird, daß der Tod seine Schreckensherrschaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist; daß der, der es vorzieht, auf den Knien zu leben, auf Knien stirbt; daß niemand leichter zu morden ist als ein Sklave. Wir Lebenden haben zu lernen, daß man auf den Knien noch nicht einmal leben kann, daß man nicht unsterblich wird, wenn man dem Leben nachjagt, und daß, wenn man für nicht mehr sterben will, man stirbt, obwohl man nicht getan hat". (Arendt 2019, Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, hier: Keinen Kaddisch wird man sagen, vom 19.6.1942, Hervorhebung im Original).
So kann man aus heroischen Zeiten lernen, dass nicht "das Leben" der höchste Wert ist, sondern dass es Werte sind, für die es sich zu leben lohnt. Ähnlich wie die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, die von einem Komitee unter dem Vorsitz von Elenea Roosevelt erarbeitet wurde, haben die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland formuliert. Gemeinsam ist ihnen, dass der erste Artikel nicht "dem Leben" gewidmet ist (es folgt in Artikel 3 (UN) bzw. 2.2 (GG)), sondern der einzigartigen Würde des Menschen. Das ist die Lehre des 20. Jahrhunderts, die manche vergessen zu haben scheinen: Vor der Vernichtung des Lebens stand die Vernichtung der Person. Zuerst wurde dem Leben die Würde genommen, das einzigartige und unverrechenbare Gut, das dem Menschen gegeben ist. Als es genommen war, konnte man die Menschen in den Lagern vernichten. Weil sie schon auf den Knien lebten, starben sie, schrieb Arendt, und das war ihre Kritik an jüdischer Politik und jüdischem Selbstverständnis.
5. Schluss
Eine neue Orientierung: Der Krieg hat also auch eine Zäsur für die Orientierungsfunktion philosophischer Theorien gebracht. Auch der von Müller favorisierte pragmatische und verantwortungsethische Pazifismus reicht 2023 als Orientierung nicht mehr aus. Die Befriedung Europas, die bereits durch die Nachfolgekriege auf dem Balkan Risse bekommen hatte und nun durch den Angriffskrieg Russlands eine Zäsur erfährt, hatte die Menschen in ein postheroisches Wohlstandsmodell als Versicherung gegen alle Lebensrisiken eingespannt. Die Mittel-, West- und Südeuropäer lernen gerade wieder, dass es Werte gibt, für die man zumindest "etwas" riskieren muss. Bislang riskiert der gemeine EU-Bürger nur Wohlstandsverluste, wie es die Bundesregierung unmittelbar nach Kriegsausbruch - insbesondere der Wirtschaftsminister - kommuniziert hat. Das ist das Mindeste.
6. Literatur
- Hannah Arendt (2019): Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher; darin: Keinen Kaddisch wird man sagen, vom 19.6.1942
- Olaf Müller (2022): Pazifismus. Eine Verteidigung.
- Bertrand Russell (1915): Die Philosophie des Pazifismus.