2013 veröffentliche einer der F.A.Z.-Herausgeber eine Streitschrift: Für die einen war es eine Art Skandal-Dokumentation für andere Science-Fiction-Literatur mit einem Einschlag Verschwörungstheorie. Frank Schirrmacher ist 2014 viel zu jung verstorben, was sagt uns EGO.Spiel des Lebens in 2019?
Frank Schirrmacher nimmt uns in EGO auf eine historische Reise mit, um in 250 Jahren Wirtschafts- und Geistesgeschichte die Umwandlung des Menschen in einen Automaten nachzuvollziehen. Er beginnt mit den Automaten (die anscheinend beseelten Puppen haben die äußere Form einer Ente und eines Tänzers) von Vaucanson des 18. Jahrhunderts in Lyon. Es handelt sich dabei um jenen Vaucanson, der später den vollautomatischen Webstuhl erfinden sollte. Dann geht es im Parforceritt weiter: Schirrmacher erzählt von den Monstern Merry Shelly des 19. Jahrhunderts, von der großen Depression der USA, von einer Zeit, in der einerseits die geplante Obsoleszenz erfunden und die Massenpsychologie ökonomisch gedeutet wurde, weiter über die Spieltheorie von John Nash und über die Erfindung des homo oeconomicus als zentralen Sündenfall, der den Menschen von einem moralischen Wesen in ein berechenbares transformiert habe.
Dazu existieren zwei Meta-Erzählungen im Buch. Die eine erzählt vom Menschen, die andere vom "System". Die Erzählung zum Menschen beginnt Schirrmacher im 18. Jahrhundert und der Frühindustrialisierung, in der es schon nicht mehr darum ging, angepasste Maschinen für den Menschen zu entwickeln, sondern 'einen Menschen für die Maschinen zu erfinden'. (S.123) Die Meta-Erzählung zum "System" lautet: Zur Durchsetzung von Spieltheorie und "Nr.2", wie er unseren ständigen Begleiter, den (be-)rechnenden homo oeconomicus nennt, lautet: Der Westen (die USA) entwickelten diese Instrumente (Spieltheorie und neues Menschenbild), um den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Nach dem Fall der Mauer, so Schirrmacher weiter, sei Nr. 2 in unsere Seelen gewandert (und habe dort den Kalten Krieg fortgesetzt):
'John McDonald, jener erste Reporter, der Anfang der Fünfzigerjahre in die noch ultrageheimen Büros der Spieltheoretiker vorgelassen wurde, hatte der Welt freudestrahlend verkündet: 'Die Mathematiker haben ein perfektes, narrensicheres System entdeckt, mit dem man alle Arten halsabschneiderischer Spiele spielen kann: von Poker über Business - bis zum Krieg'. Der Nervenkrieg mit Moskau war vorbei. Man schrieb den 9. November 1989. Jetzt zog der Kalte Krieg ins 'business' ein. Und zwar buchstäblich. Er packte seine Koffer und zog an die Wall Street'. (S. 74).
Letztlich, so vermute ich, versuchte Schirrmacher mit den modernsten Begriffen klar zu machen, dass eine reine Maschinenherrschaft denkbar ist (er gehört damit wohl in eine Reihe, wie Elon Musk von Space X und Tesla und Stephen Hawking, sondern), wie sie uns als Dystopie in The Matrix erschien. Schirrmacher erzählt die Flucht von Vaucanson, verfolgt von den ersten Maschinenstürmern, nach England: Diese Flucht machte
'klar, dass man den Menschen erst noch beibringen musste, den Maschinencode auch dann anzuerkennen, wenn die Maschine nicht aussah wie ein Mensch oder ein Tier. Doch jetzt begann man sich in England für die Spielzeug-Automaten zu interessieren. Es waren ausgerechnet die Venture-Kapitalisten, die James Watt die Entwicklung der Dampfmaschine finanzierten, die auch einem Mann mit dem bezeichnen den Namen Merlin mit einer beträchtlichen Summe unterstützten. [...] Mit dem Geld jener Finanziers organisierte Merlin eine Dauerausstellung von Androiden, von der man nicht weniger sagen kann, als dass sie die Zerlegung des Menschen in alle jene Einzelfunktionen vorführte, die später im industriellen Fertigungsprozess so wichtig werden würden. Die Figuren 'führten fast jede Bewegung und Neigung des menschlichen Körpers aus, nämlich die des Kopfes, der Brust, des Nackens, der Arme, der Finger, der Beine und selbst die Bewegung der Augenlieder und das Emporheben von Fingern und Armen ans Gesicht.
Tatsächlich sahen die Menschen, ohne es zu wissen, Algorithmen. Sie waren nicht wie heute in Codes geschrieben, sondern handgreiflich. aber sie bereiteten die Menschen auf eine Welt der Arbeitsteilung und der Zerlegung vor'.
Die grundsätzliche Kritik an Schirrmachers großer Erzählung, die letztlich zur Kritik der Finanzindustrie führen sollte (Die Jahre 2009 bis 2012 standen nämlich ganz im Schatten der Finanz- und Schuldenkrise), ließ nicht lange auf sich warten. Joffe z.B. kritisierte als Herausgeber der ZEIT die folgenden vier Punkte:
- die These, dass brutaler Egoismus herrscht, dass die Gedankenmodelle der Ökonomie alle anderen Sozialwissenschaften erobert hätten, sei schon seit Jahren durch die Verhaltensökonomie widerlegt worden, vorher hätten schon Keynes und Herbert Simon an dieser Annahme gerüttelt.
- der „Homo oeconomicus“ sei nicht im 20. Jahrhundert von den Chicago Boys, sondern von den Liberalen des 18. und 19. Jahrhunderts erfunden worden.
- Game Theory (Spieltheorie) sei mit Operations Research verwechselt worden. Spieltheorie sei keine Anleitung zum Krieg.
- Zu der Aussage, dass die Teams der RAND Corporation, die sich während des Kalten Krieges mit Operations Research beschäftigten, später neue Jobs finden mussten und sich mit der Automatisierung von Märkten beschäftigten, sagt Joffe, dass diese Experten für Geldgeschäfte kein Talent hatten und daher keinen Einfluss auf die Handelssäle ausüben konnten. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ego:_Das_Spiel_des_Lebens#cite_note-8)
Im Gestus des konservativen Historisten weiß Schirrmacher innerhalb seiner Erzählung zu jeder Zeit genau Bescheid, wann und wo etwas Entscheidendes gesagt oder getan wurde. So wurde nach dem Ende des Kalten Krieges zum Problem, wie er meint, dass die Physiker, die man für all die tollen Raketen gebraucht hatte, überflüssig wurden und diese sich nach neuen Jobs umschauen mussten. Spätestens 1996 fragten sich die Physiker, was sie nun mit dem Rest Ihres Lebens und Ihrer Karriere anfangen sollten. Die Antwort, die sie sich laut Schirrmacher gaben, lautet: Sie gingen an die Wall Street, um fortan 'soziale Physik' zu betreiben, die Gesellschaft in ein nach den Regeln des Nash-Gleichgewichts funktionierendes EGO-Spiel zu verwandeln (S.77). Da in Schirrmachers Buch zu keiner Zeit vom Gefangenen-Dilemma und verschiedenen "Spiel-Optionen" die Rede ist, bleibt letztlich unklar, ob er Spieltheorie oder die Konsequenzen für Akteurs-Handeln auf Basis der Spieltheorie wirklich verstanden hat (vgl. auch die Joffe-Kritik oben).
Wenn nun Konservative Konservative kritisieren, folgt daraus zumeist eine Kritik der falschen Grundannahmen, die Schirrmacher in die Irre haben philosophieren lassen: falsches Geschichtsbild (schließlich habe niemand die Sowjetunion tot gerüstet, sie sei einfach an inneren Widersprüchen zerbrochen) und falsches Menschenbild. In einer Kritik der WELT, die zu Beginn als Glosse daher kommt, wird Schirrmacher mit Verschwörungstheoretikern verglichen, die man üblicherweise eher an den Hauptbahnhöfen der Republik antrifft.
Cornelius Tittel heißt der Autor in der WELT, und er zitiert die folgende Passage Schirrmachers:
'Vor sechzig Jahren wurde von Militärs und Ökonomen das theoretische Modell eines Menschen entwickelt. Ein egoistisches Wesen, das nur auf das Erreichen seiner Ziele, auf seinen Vorteil und das Austricksen der anderen bedacht war: ein moderner Homo oeconomicus.
Nach seiner Karriere im Kalten Krieg wurde er nicht ausgemustert, sondern eroberte den Alltag des 21. Jahrhunderts. Aktienmärkte werden heute durch ihn gesteuert, Menschen ebenso. Er will in die Köpfe der Menschen eindringen, um Waren und Politik zu verkaufen. Das Modell ist zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Der Mensch ist als Träger seiner Entscheidungen abgelöst, das große Spiel des Lebens läuft ohne uns'.
Ja, Schirrmacher bringt die Ahnung zum Ausdruck, dass (mit dem Blick aus 2013) der Mensch kaum mehr Einfluss auf das "System" hat. Teile davon sind sogar so groß und mächtig geworden, dass sie "too big to fail" geworden sind (Vielleicht hat Schirrmacher den gleichnamigen Film sehr intensiv studiert). Nein, was Schirrmacher tatsächlich nicht sieht, ist, dass sich "der automatische Prozess" des "Systems", das die Menschen eher zu Agenten, zu Anhängseln der Maschine, der Maschinerie, zu Automaten macht, keine Spieltheorie, keine Modellannahmen von Menschen, keine Physiker, die zur Wall Street wechseln, benötigt, sondern im kapitalistischen Produktionsprozess, in der Warenproduktion selbst angelegt ist. Und dies hat, wenn man die Thesen Schirrmacher wirklich "vom Kopf auf die Füße stellen" will, nun wirklich schon jemand anderes und lange vor ihm im 19. Jahrhundert beschrieben:
'Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. [...] In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigene Bewegung, seine Verwertung als Selbstverwertung. [...] Wenn in der einfachen Zirkulation der Wert der Waren ihrem Gebrauchswert gegenüber höchsten die selbstständige Form des Geldes erhält, so stellt er sich hier plötzlich dar als eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz, für welche Ware und Geld beide bloße Formen'. (vgl. Das Kapital, S. 167 und S. 169, Hervorhebungen von mir).
Es ist also durchaus in der Form der Produktion angelegt, dass es unter kapitalistischen Bedingungen zu einem automatischen, sich selbst reproduzierenden Prozess kommt: das Kapital (nicht nur das Finanzkapital) ist eine sich selbst bewegende Substanz geworden. Populäre Film-Mythen erzählen und nicht nur aber vor allem im Science Fiction genau diese Geschichte: Statt "Kapital" sind es dann "die Maschinen", die sich zur selbstbewegenden Substanz aufschwingen (Und immer gibt es einen Tag X, an dem die Maschinen "Bewusstsein" erlangen). Die allerpopulärsten Filme dieser Art heißen The Matrix und The Terminator. Die Gegenwart (2019) zeichnet sich nun dadurch aus, dass die noch recht vulgäre Deutung der selbstprozessierenden Substanz, wie sie in "den Maschinen" zum Ausdruck kam, sich nunmehr "vergeistigt"; die sich selbstbewegende Substanz heißt nun immer öfter "Algorithmen" Zumeist tauchen sie im Plural auf und übernehmen im gesellschaftlichen Diskurs die Rolle jener geheimnisvollen Mächte, die die Strippen ziehen.
Der Publizist Schirrmacher, der sich von Tiller anhören musste, mit EGO einen Science-Fiction Roman vorgelegt zu haben, hat tatsächlich eher die Ahnung dieses automatischen Prozesses in seinen, von der Finanzkrise überdeterminierten Begriffen beschrieben. Er hat dabei die enormen Auswirkungen sowohl für die Gesellschaft als auch für das Individuum antizipiert. Schließlich hat er - auch für den Erfolg des Buches - diese Ahnungen mit Quasi-Romanfiguren versehen, die in einer, nun ja, spannenden, thriller-artigen Großkonfrontation, also im Kalten Krieg, versuchen, mit einer einzigen Weltformel (mit Nashs Spieltheorie) Welt und Menschen unter Kontrolle zu bringen. Ich finde, das ist ihm gut gelungen.
Die Gegenwart erzählt sich nunmehr mit "Big Data" und den allgegenwärtigen Algorithmen die Geschichte weiter. Die Vor-Erkenntnis, dass sich die Menschen mit dem wirtschaftlichen "System" einen Dr. Jekyll und einen Mr. Hyde geschaffen haben, der sie entlang der konjunkturellen Entwicklungen mal belohnt und mal bestraft, hilft sicher, einen Deutungsschritt weiter zu gehen.