… waren die die Redakteure der Massenmedien: der Zeitungen und Zeitschriften, des Radios und des Fernsehens. Die Erziehungsanstalten wurden mit dem Zeitalter von Massenproduktion, Massenkonsum und elektronischen Massenmedien (ab den 1930-ern, endgültig ab den 1950-er Jahren) von Gatekeepern einer besonderen Form organisiert: von den Schulbuchverlagen. Was im Schulbuch stand und steht, schien wichtig und richtig. Allen Reformbemühungen nach dem PISA-Schock zum Trotz, die u.a. in der Einführung der Kompetenz- und Outputorientierung bestanden, konnten die Schulbuchverlage ihre Machtposition bewahren und das, obwohl sie sich mit eBooks als PDF, versehen mit ärgerlichen Digital-Rights-Managementsystemen, nur äußert zögerlich der Gegenwart zuwendeten. Das Aufkommen des Internet hatte auch hier zu einer Erschütterung der Macht geführt, die noch in allen Teilen der Galaxis wahrgenommen wurde. Diese über Jahrzehnte und - auf Papier - seit zwei Jahrhunderten bestehende Gatekeeper-Macht erlebte im Mai 2019 eine entscheidende Erschütterung: Der Musikproduzent und allseits als "Youtuber" benannte @rezo/@rezomusik hatte alle klassischen Gatekeeper umgangen und ging mit einem Video online, das nichts weniger als die "Zerstörung der CDU" vorgab. Und das kurz vor einer Wahl, der Europawahl 2019.
Eine ähnliche Erschütterung erreichte das "antiquierte Schulsystem" (Der Spiegel) Deutschlands zum Ausbruch der Corona-Krise. Da nunmehr ein deutlich größerer Teil der Lehrkräfte im Schnelldurchgang v.a. dadurch digitalisiert wurde, dass Videokonferenzsysteme genutzt wurden und nun die Teilnahme an Webinaren nichts Außergewöhnliches mehr darstellten, verstärken auch die Schulbuchverlage ihre Webinar-Tätigkeit und verteilten ihre Angebote an die Multiplikatoren im Bildungssystem. Die folgenden Zeilen, die mit der Absicht geschrieben wurden, des Kaisers neue Kleider zu begutachten, sollen bitte mit einem Schmunzeln gelesen werden.
Die Ausgangsthese ist klar: Die konkreten Unterrichtsinhalte wurden in der Gutenberggalaxis i.d.R. von den Schulbuchverlagen vorgeschrieben. Legendär dazu die Fachkonferenzaussage: "Wie sollen wir denn den Unterricht planen, das neue Schulbuch ist doch noch nicht erschienen"?
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Eine Menge an Problem-Fragen: Diese Gatekeeper laden nunmehr auch immer intensiver in ihre Webinare ein. Ein modernes Format, das in Zeiten des Distanzlernens nun auch für die „Papiermenschen“ (DER SPIEGEL) nach und nach in den Schulen interessant wird. Daher stellen sich in diesen Zeiten die folgenden Fragen noch drängender denn je:
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Ist die Teilnahme sinnvoll, um etwas über zeitgemäßen Unterricht in der Turinggalaxis, also unsere Gegenwart, zu erfahren?
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Wird denn wohl etwas über die grundsätzlichen Bedingungen des Lernens im digitalen Zeitalter berichtet werden?
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Erwartet man die Einbindung des „offenen Internet“ und der Netzkultur in den Unterricht?
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Kann man auf Anregungen hoffen, eine Kultur der Digitalität zu sehen, um sie selbst praktizieren zu können?
Versuch einer Antwort mit einer „schiefen“ Analogie:
- Stellt euch die Gatekeeper des Zeitalters der Scriptografie, die Mönche, vor, und dass es ihnen gelungen wäre, jahrhundertelang die Idee zu bekämpfen, die Inhalte handgeschriebener Bücher müssten an alle Menschen verteilt werden.
- Und stellt euch weiter vor: Es wäre ihnen noch 400 Jahre länger möglich gewesen. Und stellt euch nur vor, dass im 19. Jahrhundert ein Nachfahre eines gewissen Johannes Gutenberg sie überredet hätte, doch noch eine Maschine mit beweglichen Lettern zu erfinden, zu bauen und damit auch die Baupläne an alle zu verteilen.
- Und jetzt fragt euch: Wäre es sinnvoll gewesen, nach all den Jahrhunderten des passiven Widerstandes ausgerechnet die Mönche zu fragen, wie nun mit dem „neuen“ Medium „Buch“ zu verfahren sei?
- Hätten Sie nicht vorgeschlagen, die Bücher ausschließlich in Klöstern zu sammeln und aufzubewahren? Wäre von Ihnen nicht gesagt worden, dass die Schrift nicht das Wissen des Menschen vermehre, wie sie es im Phaidros Platos gelesen hatten.
- Und weiter: Hätten die Mönche nicht schließlich dazu geraten, die Menschen von eigenen Büchern abzuhalten, weil sie so zu „Dünkelweisen“ würden, wie es ihnen Platon schon aufgeschrieben hatte?
- Und hätten sie als Alternative zur „Dünkelweisheit“ nicht auch empfohlen, wenige und kurze Texte zu drucken, um sie anschließend v.a. von den Kindern in deren Lehranstalten auswendig lernen zu lassen?
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- Und hätten die Mönche nicht vor zu großer Verbreitung des „neuen“ Mediums gewarnt, weil Bücher in den Händen des Demos notwendig zur Tyrannis führe, was ihnen ebenfalls Platon aufgeschrieben hatte?
- Und wären die Kinder nicht weiterhin v.a. mit Reimsprüchen erzogen worden, wie etwa: „333 - bei Issos Keilerei", die im Kern immer auf das "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“, rekurrierten und die in ihrer Methodik noch auf das Zeitalter vor der Scriptografie verweisen (primäre Oralität)?
- Und wäre den Mönchen eine andere Art des Lernens eingefallen als die, fremde Texte durch die eigene Hand in eigene Texte umzuwandeln und dies als beste aller Formen des Memorierens zu preisen?
- Und schließlich: Hätten sie nicht auch gesagt, dass v.a. die Kinder vor Büchern zu schützen seien, weil sie sich zuerst die Augen und dann die Seele verderben?
Eure Entscheidung: Und jetzt entscheidet selbst, ob ihr Lust verspürt, an diesen Webinaren teilzunehmen.
Dass die Mönche anfänglich mit dem Buch große Probleme hatten, ist hier hinterlegt.
Verweise:
- DER SPIEGEL, Ausgabe 18, 25.4.2020, Titelgeschichte
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- Norwegisches Fernsehen: Die Mönche und das Buch: https://www.youtube.com/watch?v=5PgAEmvtG9U