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Bulimie-Kapitalismus ...

... oder was Joseph A. Schumpeter mit der Glühbirne zu tun hat?

 

2013 legte Frank Schirrmacher mit EGO. Spiel des Lebens ein hervorragendes und ein hervorragend konservatives Buch vor. Die Geschichte der letzten 250 Jahre musste neu geschrieben werden. Wie die ganze Geschichte, die große Erzählung funktioniert, werde ich an anderer Stelle festhalten (Dabei werde ich auf das Problem des konservativen Historismus eingehen, das sich sehr schön bei Schirrmacher findet: Geschichte wird gemacht, weil an einem bestimmten und bestimmbaren Tag, irgendeine Person etwas sagt oder entscheidet). Hier wird es zunächst um die Frage gehen, was sich in den Jahren von 1924 an über 1932 schließlich bis zum Beginn der 1950er Jahre unter einer sehr eingeengten Fragestellung ereignete: Welche industriepolitischen, besser: welche industrieimmanenten Entwicklungen führten in diesen Jahren den Kapitalismus in ein neues Stadium? Wenn diese Frage geklärt ist, dann kann endlich eine Aussage über die Gegenwart getroffen werden. Ein neuer Begriff wird eingeführt.

 

Die folgenden Eckdaten sollen dazu herangezogen werden: 1911 erscheint von Joseph Schumpeter Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1924 trifft sich in Genf das Glühbirnen-Kartell Phoebus (Osram, Philips und General Electric) und verabredet die Verkürzung der Lebensdauer einer Glühbirne (von ca. 300 auf ca. 200 Stunden). 1932 erscheint ein Essay, der mitten in der großen Depression, diese überwinden will:Die Überwindung der Depression durch geplante Veraltung von Bernard London (ein Immobilienmakler). "London schlug vor, dass jedes Produkt nur einen begrenzten, staatlich verordneten Lebenszyklus haben dürfe. Danach wären 'diese Dinge offiziell tot' und müssten entsorgt oder vernichtet werden". (zitiert nach Schirrmacher, S. 240). Den Begriff Veraltung kennt man unter dem Fachbegriff Obsoleszenz. Gemeint ist immer der geplante - vorzeitige - Produkte-Tod. Der Gedankengang wirkt aus historischer Perspektive sehr konsequent. Die große Depression erschien den Zeitgenossen als große Überproduktions- und oder als Unterkonsumtionskrise. Der Kapitalismus war noch nicht in sein fordistisches Stadium eingetreten, er war also noch nicht darauf vorbereitet, dass die Produzenten auch die Waren kaufen konnten, die die neuen Fließbänder ausspuckten. J.M. Keynes kam daher 1936 in seiner Grand Theory auf die Idee, dass der Staat einspringen sollte und in dem Fall von ausfallender Nachfrage durch "Deficit spending", also durch zusätzliche Ausgaben inklusive der Möglichkeit der Staatsverschuldung, die Unterkonsumtionskrise zu überwinden. Der Keynesianismus war geboren, der in Wirklichkeit einer Zwillingsgeburt gleich kam: Über den einen Zwilling wurden - viel später: in der 60ern und 70ern - also in sozialdemokratischen Zeiten schöne Reden gehalten und über den (dunklen, versteckten) Zwilling, den man später einmal "schmutzigen Keynesianismus" nennen sollte, redete man nicht, sondern führte ihn aus: die Staaten überwanden am Ende der 30er Jahre / die USA erst zu Beginn der 40er Jahre durch gigantische Rüstungsprojekte ("auf Pump") die Depression der frühen 30er Jahre (In den USA etablierte sich dadurch dann auch dieser seltsame militärisch-industrielle Komplex, wie ihn der spätere Präsident Eisenhower am Ende seiner Amtszeit nennen sollte). Da die Deutschen den Krieg verloren, mussten das staatliche Deficit spending schon damals vom "kleinen Mann", vom Sparer bezahlt werden.

 

Der zweite große Krieg des Jahrhunderts hatte die dafür hergestellten Produkte mit anderen dafür hergestellten Produkten, nun ja: vorzeitig, zerstört. Nach dem Krieg und vor den nächsten Kriegen musste man im aufkommenden fordistischen Zeitalter (insbesondere die amerikanischen Arbeiter hatten durch den Rüstungsboom ihre Kaufkraft deutlich verbessern können) vorsichtiger vorgehen, Schirrmacher: "Bei komplexen Produkten bestand die Technik darin, das schwächste Glied, the weakest tie, zu manipulieren, um so die Funktionalität des Ganzen zu sabotieren [...] Kaputtgehen als Prinzip des Überflüssigwerdens war nun ein dreistufiger, von Ingenieuren, Werbern und Designern gleichermaßen perfektionierter Vorgang. Die ganze Branche sprach so offen wie später nie wieder von den drei Optionen: geplantes Kaputtgehen durch Qualität; das Veralten durch Funktion, weil neue Geräte besser und schneller sind; und schließlich: das 'psychische Kaputtgehen', ein Produkt ist nicht mehr Gegenstand des Begehrens, sondern out of date und dadurch überflüssig. Hierzu gehören alle Veränderungen des Designs und der Mode, die über Werbung und Vorbilder als notwendig verkauft wurden." Man müsste also auch die Geschichte des Fordismus neu schreiben: Menschen mit (Industrie)-Jobs konnten nun mittelfristige Konsumgüter, die sie teilweise selbst herstellten, vermittels des Einkommens und des Kredits konsumieren. Dieses Tauschgeschäft enthielt allerdings zwei Lügen: 1. "Du wirst dich lange daran erfreuen" (und hier weniger relevant 2. "Du zahlst uns den Kredit zurück!", nachdem die Bank das Geld gerade "geriert" hatte).

 

Zurück zu dem Phoebus-Kartell und Joseph Schumpeter: Schirrmacher findet mit einer einzigen Formulierung Anschluss an Schumpeter, er bringt nicht ihn, sondern ausschließlich dessen einzige große Idee in den Zusammenhang mit der Obsoleszenz. Hatte Schumpeter detailreich die (fünf) verschiedenen Innovationen der Unternehmer gefeiert und deren dynamische Durchsetzung am Markt (mit neuen Produkten) als Grund für die Konjukturbewegungen herausgestellt, stellt Schirrmacher fest: Erstmals [die Obsoleszenz der Glühbirne war so eben beschlossen worden, M.S.] hatten Ingenieure die 'schöpferische Zerstörung' (das ist der Begriff Schumpeters) als Eigenschaft in die Objekte selbst eingebaut und damit nicht nur etwas Funktionierendes konstruiert, sondern auch etwas nicht Funktionierendes'. Mit den Quellen über 1924 können wir nun zu den möglichen Innovationen die eingebaute, vorzeitige Selbstzerstörung hinzufügen. Mit Schumpeter könnte man sagen, eine sechste Quelle der Innovation war gefunden worden. Das hat Schumpeter nie erkannt, und er hätte es nie anerkannt: die Ausweitung die Kampfzone des Entrepreneurs auf die Selbstzerstörung der Produkte. Der Industriedesigner Harley Earl formulierte das 'geplante oder dynamische Veralten' wie folgt: "Unser großer Job ist es, das Veralten zu beschleunigen. 1934 behielten die Leute ihr Auto fünf Jahre. 1955 sind es zwei Jahre. Wenn es ein Jahr ist, haben wir den perfekten Wert" (zitiert nach Schirrmacher, S. 243).

 

Nun ja, die Automobilindustrie hat das nie ganz geschafft, wenn auch viele Finanzierungsmodelle der Automobilkonzerne den Umschlag von alt auf neu beschleunigen wollten (so z.B. durch Gründung der Autobanken und das Aufgekommen des Privat-Leasings). Das Auto - als mittelfristiges, recht großes und komplexes Konsumgut - konnte nicht so schnell umgeschlagen werden, wie noch 1955 erträumt (wahrscheinlich wäre der Planet dadurch zu schnell an sein Ende gekommen). Ein anderes Produkt jedoch - und jetzt löse ich mich ein wenig von Schirrmacher - wurde dem Grunde nach in den 1950er Jahren erfunden und löste in den 1980er Jahren eine stille Revolution aus. Es stand zuerst auf den Büroschreibtischen der Welt, um dann schließlich auch in die Privaträume einzuziehen: gemeint ist der Personal-Computer (PC). Der PC brachte eine wunderbare Eigenschaft mit: Er enthielt zwei Komponenten die rasant veralteten: Hardware und Software. Von dem oben gezeigten drei Optionen des Veraltens, traf am Computer v.a. Option 2 zu: Veralten durch Funktion, weil neue Geräte besser und schneller sind. Ein Zauberlehrling hätte kein besseres Produkt erfinden können. Von nun an kam es zu einem dialektischen gegenseitigen Veralten: Neue Software lief nicht mehr auf veralteter Hardware, also musste neue Hardware angeschafft werden, auf neuer Hardware wirkte die Software "von gestern", neue Software musste her, sie lieferte so viele neue Möglichkeiten, die sie auf der erneut veralteten Hardware nicht mehr ausspielen konnte und so weiter und so fort. Die Firma Microsoft beherrschte dann in den 1990er Jahren bis etwa zur Mitte der 2000er Jahre das Geschäft perfekt. Schon die neue Betriebssoftware (Firmware) - also schon die basale Software zum Betreiben der Geräte - erforderte wieder neue Hardware. Alles schien angetrieben vom Mooreschen Gesetz: Verdopplung der Komplexität integrierter Schaltkreise alle 12 bis 24 Monate. Etwa alle zwei bis drei Jahre sollte von nun an der PC gewechselt werden. Als Microsoft zu Beginn des Jahres 2007 mit dem neuen Betriebssystem "Vista" auf die Nase fiel, stand Apple gestärkt durch die Rückkehr von Steve Jobs und vielen verkauften iPods und iMac zur Verfügung, um einen neuen Wettbewerb mit einer neuen Geräteklasse loszutreten: dem Smartphone.

 

Hier sind wir in der Gegenwart angelangt. Während Apple Millionen und Abermillionen iPhones verkauft, gerät der Konzern in die Krise, weil er beim Absatz zehn Prozent unter der Kalkulation bleibt. Wir Konsumenten von Smartphones haben in den letzten Jahren zur Kenntnis genommen, dass unter anderem der Akku der Geräte so etwas wie eine geplante Obsoleszenz darstellte, die Apple jedoch in einem werbewirksamen Akku-Tausch-Programm aufgefangen hat. Wir wissen heute vielmehr, dass sich - wie die Designer zu Beginn der 1950er Jahre schon wussten - die Ausweitung der Kampfzone auf das "psychische Kaputtgehen" konzentrieren würde. Das einstmals heiß begehrte iPhone ist nach einem oder spätestens nach zwei Jahren nicht mehr begehrenswert und muss ersetzt werden. Apples Krise kann ganz konventionell beschrieben werden: Nach dem Urknall mit dem Ur-iPhone wurden einige Jahre relevante Innovationen dem Produkt hinzugefügt. Nach diesen jährlichen Update-Zyklen (in denen man von Apples Seite durchaus die eine oder andere Innovation ein Jahr zurückhielt, um im kommenden Jahr noch eine weitere Innovation anbieten zu können) erreichte man womöglich exakt im September 2018 die Phase der reinen Pseudo-Innovationen ("Peak iPhone"), die sodann kein Wachstum mehr provozieren konnten. Die Konsumenten schafften es einfach nicht - sie hatten sich vor 10 Monaten mit dem durchaus innovativen Produkt iPhone X eingedeckt -, sich dieses Produkt psychologisch kaputt zu reden und durch ein sehr sehr ähnliches, dem iPhone Xs zu ersetzen.

 

Am Vorabend einer großen Krise, die in den USA und Mitteleuropa einen zehnjährigen Konjunkturaufschwung beenden wird, der seinerseits ein Aufschwung nach der großen Finanz- und Schuldenkrise war, sehen wir überall die Zeichen von Überproduktion und Unterkonsumtion: die deutschen Autobauer schicken die Belegschaft immer öfters für Freischichten nach Hause, die Dieselkrise, die Stickoxidkrise, das mögliche "Ende" der deutschen Autobauer schafft Unsicherheiten bei den Verbrauchern. Vielleicht wird man später die Ereignisse als politisch überdeterminiert interpretieren: der gewollte Handelskrieg, der von den USA ausging, die Brexit-Krise, die zum Horten und nicht zum Konsumieren (von teuren mittelfristigen Konsumgütern) animierte usw. Der Informationskapitalismus, den Schirrmacher 2013 beschrieb, kommt an ein weiteres Ende seines Wachstums. Die reale wie psychische Obsoleszenz der Produkte reicht nicht mehr aus, die Strategien, die Apple, die die Autobranche und andere fahren, lauten schlicht: Konsumiert schneller! Die Konsumenten werden das 'psychische Kaputtgehen' auf eine neue Stufenleiter stellen müssen: als inneren Zwang, von Rationalitätsüberlegungen abgekoppelten Wunsch, das Neue um des Neuen willens zu konsumieren. In diesem Prozess wird das Alte noch schneller ausgeschieden, um Platz für das Neue zu schaffen. Daher ist es Zeit, dieses Stadium des Kapitalismus mit einem neuen Begriff zu versehen: Wir sind eingetreten in das Zeitalter des Bulimie-Kapitalismus. So richtig zeigen wird er sich im Konjunkturaufschwung nach der nächsten großen Krise.