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20 Jahre The Matrix

1999, Karfreitag in den USA, Anfang Juni in Deutschland: The Matrix von den Wachowski-Brüdern startet. Es war jener Film mit dem 'Wow-Effekt', der einmal alles 'von rechts auf links zieht', besser: 'von außen nach innen' und umgekehrt zieht. Kann das sein, Philosophie trotz Kung Fu und Gewaltverherrlichung in einem einzigen Film?, wurde gefragt. Die Theolog*innen und Philosoph*innen versuchten sich bis 2002/2003 mit mehr oder weniger Erfolg an diesem Stück. Mit den beiden Nachfolgern The Matrix Reloaded und The Matrix Revolutions machte sich Enttäuschung breit: Weitgehend philosophiebefreit, schien der Actionfilm nicht viel mehr zu bieten als Action (von Monica Bellucci einmal abgesehen). - 2003 hatte ich einen Entwurf fertig, mit dem ich die Matrix 'ausrechnen' wollte. Leider kam dann unmittelbar vor Erscheinen des 3. Teils, Matrix Revolutions, Georg Seeßlens großartige "Entschlüsselung" der Matrix auf den Markt. Es schien, als sei alles gesagt. Abgeleitet von meinen Ambitionen blieb lediglich ein Vortrag in Bielefeld, Dezember 2004 übrig.

Ich veröffentliche hier Kapitel 0, in dem ich das Programm der Auseinandersetzung skizziere und auch das inhaltliche Vorgehen darlege.

Matrix Revoluzzer

0. Einleitung: 'Spieglein, Spieglein and der Wand ...'

 

„Mir ist schleierhaft, wie diese irre Nummer jemals wiederholt werden kann, aber es ist eine der größten Errungenschaften aller Zeiten im Science-Fiction-Film“ (Sterling, 2003, S. 18).

 

Alles ist mit Matrix denkbar. Gilt das auch für eine Analyse, die mehr sein will als eine Rezension? Selbstverständlich! Die Besprechungen und die philosophischen und theologischen Deutungen sind Legion. Der Autor dieser Zeilen tritt nun wiederum an, eine neue Frage aufzuwerfen, vielleicht eine neue Antwort zu geben. Im Schlusskapitel soll gezeigt werden, dass eine spezifische Interpretation einer offen dargestellten Problematik so noch nicht präsentiert wurde. Matrix ist hier überraschend offen und ehrlich. Zuvor soll jedoch auch in den übrigen Kapiteln mit dem Rückgriff auf Literatur zum Film Matrix, die schon bald ebenfalls mehr als pure Rezensionen waren, jeweils etwas Neues präsentiert werden. Beginnen wir also vorne.

 

Die Matrix-Legende, wie sie in den Filmen und Kurzfilmen in Matrix, Matrix Reloaded, Animatrix (und Matrix Revolutions, den der Verfasser im August 2003 nicht kennt) präsentiert wird, bietet tatsächlich für die unterschiedlichsten Konsumenten- und Rezipienten-Wünsche Erfüllung an. Auf sechs Ebenen ist für jeden etwas dabei, das ist die These dieser Darstellung. Sechs Leseebenen eines Films, das ist nichts Ungewöhnliches. Doch je actionlastiger ein Film wird, umso größer die Erklärungsnot. 

 

Nun aber der Reihe nach. Beginnen wir mit dem Schönen, das sich spiegelt. Wer ist die Schönste im ganzen Land? In Matrix sehen wir Spiegel über Spiegel. Was ist Innen, was ist Außen? Surrealismus oder Cyberpunk oder etwas ganz anderes? Ist Matrix ein Original oder ist in dem Jahrhundertfilm nur gespiegelt, was Kultur und Subkultur des 20. Jahrhunderts erfunden haben? Fragen über Fragen. Fangen wir an Antworten zu finden.

 

 

 

Die spiegelnden Flächen in Matrix sind allgegenwärtig. Die erste prominente Platzierung eines Spiegels, wie wir ihn zu kennen glauben, sehen wir im Anschluss an das Verschlucken der roten Pille. Neo weiß nicht, was mit ihm passiert, er sieht sich im Spielgel, plötzlich aber bleibt der flüssig werdende Spiegel an ihm kleben, bis er Neo quasi aufsaugt. Später spiegelt sich Neo auf einer Löffelrückseite, vorher schon in Morpheus' Sonnenbrille. Und auch die Hochhäuser das Matrix-Welt haben verspiegelte Fassaden (Gezeigt wird uns ein verfremdetes Sydney). Diese Flächen signalisieren nichts anderes, als dass die Akteure in der Matrix in einer von Menschen geschaffenen, einer selbstgeschaffenen Sphäre, in einer Technik-Welt leben. Selbst wenn die Natur einfache Spiegelungen kannte (im Wasser, in der Luft, Fata Morgana), hat erst die Kultur die Menschen zu Spiegeln im heutigen Sinne geführt. Eins zu eins. Was wir im Spiegel sehen, scheint die Wirklichkeit, scheinen wir zu sein und doch sind die Details problematisch. Fahren wir uns mit der Hand über die rechte Seite, ist es in Wirklichkeit doch die Linke, wir können vom Spiegel getäuscht werden. Das Spiegelbild kann uns zur Totaltäuschung werden, uns von unserem Sein völlig entfremden. Man denke nur an das Bildnis des Dorian Gray. Die narzisstische Erkrankung wird mit dem Spiegel assoziiert.

 

Der Spiegel vertauscht hier jedoch nicht rechts und links, sondern er vertauscht innen und außen. Was innen und was außen ist, darüber müssen sich die Akteure – wollen sie realitätsnah, bzw. bei Verstand bleiben – immer wieder neu verständigen. Unsere Matrix-Akteure unterliegen also einer ersten Täuschung. Die spiegelnden Flächen scheinen als Kulturleistung der Menschen, sind jedoch nichts als Konstrukte innerhalb einer simulierten Welt, die die Maschinen entwickelt haben.

 

Bleiben wir jedoch ein wenig in unserer Realität. Unsere Städte sind auch zunehmend verspiegelt, v.a. auch dann, wenn wir die zunehmenden Videoleinwände auch als Spiegel interpretieren. In dieser Welt bewegen sich die Menschen in einer Art Selbsthypnose, weil nur die selektive Wahrnehmung von Realität Alltag bewältigen lässt. Niemand nimmt das verspiegelte Stadtbild als Ganzes wahr, jeder konzentriert sich auf Details der unmittelbaren Umgebung. Die spiegelnden Strukturen schaffen dabei die Illusion von mehr Raum (Vgl. Motter 2003, S. 115 f.). Die Menschen sind nicht so eingeengt, selbst der Himmel scheint in einer verspiegelten Mega-Metropole in die Straßenschluchten geholt. In The Matrix und den Sequels heißt das: Zunächst ist überhaupt ein Raum vorhanden, der die – nennen wir sie provisorisch so – Cyber-Rebellen innerhalb einer allumfassenden Simulation agieren lässt. Zugleich bemerkt man, dass das Dunkle, das Noir-Thema des Films, für die Allmacht der künstlichen Intelligenz (KI) und die Ohnmacht der Menschen steht. Aber weiter im Spiegel: Die spiegelnde Architektur gibt Hoffnung. Urbane Architektur ist für den Menschen geschaffen. Er wird sich seine Städte schon zurückerobern, glauben die Kinobesucher. Dass die Hoffnung eine Illusion bleiben muss, wird am Ende von Reloaded den Zuschauern nahegelegt.

 

Spiegel schaffen Illusionen. In den Texten des Zen-Buddhismus wird in Bezug auf Meditation und Erleuchtung davon gesprochen, „den Spiegel des Geistes zu polieren“ (vgl. Di Filippo 2003, S. 68). Welch eine zutreffende Aufforderung für unsere Rebellen! Das aber hat nicht nur für die Akteure innerhalb der Matrix Konsequenzen, sondern auch für die mittlerweile zahllosen Rezensenten und Interpreten des Films. Nicht zuletzt aber auch für all diejenigen, die verstehen wollen, was die Wachowski-Brüder mit Ihnen angestellt haben, als sie mit der ersten Eintrittskarte für The Matrix zugleich eine Eintrittskarte in das Wunderland (nicht nur der Wachowskis) lösten. Alle, die sich mit der Matrix-Legende auseinandersetzen, spielen die Thematik weiter und verspiegeln sie. Zusammen mit den Spiegeln des Films und den Spiegeln unserer urbanen Architektur kommen wir hier zu einem methodischen Vorschlag: Bleiben wir möglichst lange im Wunderland der Spiegelwelt! Hier können wir interpretieren und deuten, auf Texte und Hinweise anderer Autoren und Philosophen verweisen, die das Matrix-Universum aufhellen. Erst zum Schluss, im letzten Kapitel kann und soll das Deutungsergebnis „aus dem Spiegel heraus“ geholt werden, so dass dabei eine weitere Deutungs-Ebene generiert werden kann. Hier ein Überblick über die sechs Ebenen des Interpretationszuganges:

 

  • Erste Ebene: Wir konsumieren einen Actionfilm mit Kung Fu (Martial Arts) und in Reloaded inklusive dem amerikanischen Topos schlechthin: (Auto-)Verfolgungsjagd.
  • Zweite Ebene: Wir bemerken in einem Actionfilm die symbolhaft aufgeladene Figur Neo, die etwas vom Messias hat.
  • Dritte Ebene: Wir erkennen im ein wenig aufdringlichen Messias-Actionfilm den fragmentarischen Aufriss von sowohl alltagsnahen als auch 'großen' philosophischen Fragen,  metaphysischer oder ontologischer Art, so z. B. die nach der Verifikationsmöglichkeit von Realität: Leben wir in der Realität oder schlafen und träumen wir? Kann der Körper vom Geist getäuscht werden? u.a.m.
  • Vierte Ebene: Wir delektieren uns neben den Action-, Messias-, und Philosophiefragmenten an der Noir-Thematik und dem Noir-Design von The Matrix. Man sieht auf der Oberfläche Gibsons Cyberpunk und hat vielleicht doch diese Ahnung, dass es genau das doch nicht ist.
  • Fünfte Ebene: Wir analysieren den Action-, Messias- und scheinbaren Cyberpunk-Film nicht in erster Linie als philosophischen Entwurf, sondern als psychoanalytische Aufarbeitung von Ich-Identitäts- und Heimatsuche und nähern uns Dorothys Geheimnis.
  • Sechste Ebene: Wir entspiegeln den Action-, Messias- und scheinbaren Cyberpunkfilm mit Philosophie- und Psychologie-Fragmenten als gesellschaftskritischen Film, der die Kritik des Politischen mit einer Kritik der politischen Ökonomie paart, dabei durchaus ein historisches Bewusstsein zeigt und dem Kinopublikum Handlungsanregungen für den Alltag vermittelt.

 

Diese sechs Leseebenen sind selbstverständlich vom Autor dieser Zeilen konstruiert. Hier wird davon ausgegangen, dass die fünf ersten Ebenen den Wachowski-Brüdern, nach ihrem Transgender-Outing nun Schwestern, weitgehend selbst bewusst sind, dass diese Lesetiefe auch so geplant war. Dazu Larry Wachowski: „Unser Ziel war es, einen intellektuellen Action-Film zu machen. [...] Wir versuchten, diesem Film so viele relevante Ideen zu geben, wie wir konnten“ (zitiert nach Neuhaus 1999). Die beiden spielten also mit der Verschachtelung von Ideen, mit Assoziationsmöglichkeiten und vor allem mit verspiegelten Kodierungen der kulturellen Tradition. Dergestalt konnte der erste Film und damit aber auch die gesamte Legende an unterschiedlichsten Interessen und Alltagsideologien der Zuschauer anknüpfen [In 2019 würde man vielleicht sagen, dass hier am Ende des zweiten Jahrtausends ein Remix vieler Ideen dieser 2000 Jahre vorgelegt wurde; und: The Matrix war wohl ein Beschleuniger der Kultur der Digitalität (Stalder)].

Die sechste von mir konstruierte Ebene ist der Versuch darüber hinaus zu gehen. Es geht darum, das Werk der Wachowskis nach meinen Kriterien zu entschlüsseln. Gerade auf dieser Ebene wird dem Werk nochmals eine besondere Qualität zugeschrieben werden.

 

Im Detail bedeutet mein Vorgehen, dass folgende sechs Großkapitel aufzufinden sein werden: Im ersten Kapitel Raider heißt jetzt Twix oder: das globalisierte kulturindustrielle Kapital (erste Leseebene) wird von Martial Arts Action, von Wu Da Pian und überraschend auch von Rosa Luxemburg die Rede sein. Im zweiten Kapitel Der Auserwählte wird über die christlich-jüdische Eschatologie und die weiteren Anknüpfungen zu reden sein, die man in Asien in der Matrix-Legende finden kann. Im dritten Kapitel Die großen Themen wird die schon oben angedeutete metaphysische und erkenntnistheoretische Ebene von Matrix erschlossen. Es wird über große Fragen und über kleine und unbefriedigende Antworten zu berichten sein. Im vierten Kapitel Superman schlägt Gibson spielen dann auch die Globalisierungskritiker eine kleine Rolle. Allerdings wird auch über semantische Besetzungen, etwa über „Terrorist“ versus „Freiheitskämpfer“, zu verhandeln sein. Denn es geht um Cyberpunk, um Super-Helden, um Super-Terroristen (Morpheus!) und mehr. Im fünften Kapitel Heimat wird wenig über Alice im Wunderland, aber um so mehr über Dorothy und den Zauberer von Oz zu lesen sein. Da über Wünsche und Träume zu reden sein wird, wird hier ein psychoanalytischer Zugriff die erste Wahl sein. Das sechste Kapitel Entspiegelung will dann Klartext reden. Es geht um das eigentliche Thema Mensch und Maschine. Der Zugriff zur Ent-Spiegelung wird ein ökonomisch-soziologischer sein. Dabei wird zu zeigen sein, dass die Vergangenheit viel über die Zukunft der Arbeit aussagt und dass Matrix ein Angebot macht.

 

Die Anordnung der Kapitel ist dabei so gewählt, dass wir uns vom Allgemeinen (der allgemeinsten spontanen Publikums-Interpretation) zum Besonderen (der Interpretation des Autors) fortbewegen. Die besondere Interpretation, die herausgeschälte Frage des Films, wird jedoch einen Allgemeinanspruch erheben.

Bevor es richtig los gehen kann, fehlt für gemeinsame Bezüge jetzt nur noch eine kurze Darstellung und Zusammenfassung der beiden bisherigen Matrix-Filme und zusätzlich einige Bemerkungen zu den revolutionär genannten visuellen Effekten.

 

[Hat jemand Lust auf mehr?]

 

 

Literatur:

Dirk Brichzi (2019): Ein Science-Fiction-Spektakel verändert die Filmwelt, in: https://www.spiegel.de/einestages/the-matrix-wie-das-science-fiction-spektakel-die-filmwelt-veraenderte-a-1259727.html, 20.5.2019. 

Filippo (2003): Der Bau eines besseren Simulakrums: Literarische Einflüsse auf die Matrix, in: Haber (2003).

Gibson (1984): Neuromancer.

Karen Haber (2003) (Hg.): Das Geheimnis der Matrix, München. 

Motter (2003): Alice in Metropolis oder: Es wird alles mit Spielgeln gemacht, in: Haber (2003).

Neuhaus (1999): Die Allegorie der Macht in The Matrix, in: telepolis.de, 8.7.1999

Georg Seeßlen (2003): Die Matrix entschlüsselt, Berlin.

Sterling (2003): Jeder andere Film ist die blaue Kapsel, in: Haber (2003).

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